Zur Absturzsicherung bei einem freiliegenden Treppenlauf auf einer Baustelle

BGH, Urteil vom 21. Juli 2020 – VI ZR 369/19

1. Zum Anspruch eines Sozialversicherungsträgers auf Erstattung von Aufwendungen nach § 110 Abs. 1 Satz 1 SGB VII.

2. Die Pflicht, einen freiliegenden Treppenlauf auf einer Baustelle mit einer Absturzsicherung zu versehen, besteht nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 2 Abs. 5 UVV „Bauarbeiten“ erst bei einer an der jeweiligen Absturzkante zu messenden Absturzhöhe von mehr als einem Meter.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Celle vom 5. September 2019 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens einschließlich der Kosten der Streithelfer der Beklagten. Die Kosten der Streithelferin der Klägerin trägt diese selbst.

Von Rechts wegen

Tatbestand
1
Die Klägerin nimmt als Trägerin der gesetzlichen Unfallversicherung die Beklagten gemäß § 110 Abs. 1 SGB VII auf Erstattung von Aufwendungen in Anspruch, die ihr durch einen Arbeitsunfall des Zeugen G. entstanden sind. Sie begehrt außerdem die Feststellung der Verpflichtung der Beklagten zum Ersatz der durch den Arbeitsunfall verursachten künftigen Aufwendungen.

2
Die Beklagte zu 1 ist Inhaberin eines Malerbetriebs; der Beklagte zu 2, ihr Ehemann, ist dort als Malermeister und Bauleiter tätig. Am 15. November 2014 erlitt der bei der Beklagten zu 1 als Maler angestellte Zeuge G. (im Folgenden: der Geschädigte) auf einer Baustelle einen Arbeitsunfall, als er gegen 12.30 Uhr in einem Treppenhaus, in dem Treppengeländer nicht vorhanden waren und eine Absturzsicherung fehlte, seitlich von der – vom Podest aus gesehen – dritten Stufe von unten auf das Podest stürzte und sich erheblich an den Armen verletzte.

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Das Landgericht hat die Klage nach Beweisaufnahme abgewiesen. Die Berufung der Klägerin blieb vor dem Oberlandesgericht ohne Erfolg. Hiergegen wendet sich die Klägerin mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision.

Entscheidungsgründe
I.

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Nach Auffassung des Berufungsgerichts sind die Voraussetzungen für einen Erstattungsanspruch aus § 110 Abs. 1 SGB VII nicht erfüllt. Es sei bereits zweifelhaft, ob die Beklagten den Versicherungsfall verursacht hätten. Zwar habe der Geschädigte unstreitig einen Arbeitsunfall erlitten, als er seitlich von der Treppe gestürzt sei. Zu diesem Zeitpunkt seien die Treppengeländer abgebaut gewesen, eine seitliche Absturzsicherung sei von den Beklagten nicht installiert worden. Doch könne nicht festgestellt werden, dass der Unfall durch eine Verletzung einer Unfallverhütungsvorschrift verursacht worden sei. Nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 BGV C 22 „Bauarbeiten“ müssten Einrichtungen, die ein Abstürzen von Personen verhindern (Absturzsicherungen), bei mehr als 1 m Absturzhöhe an freiliegenden Treppenläufen und Absätzen vorhanden sein. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme habe sich der Unfall aber ereignet, als der Geschädigte auf der dritten Treppenstufe gewesen sei, die ungefähr eine Höhe von 50 cm habe. Bei dieser Höhe sei eine Absturzsicherung nicht erforderlich.

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Aber auch, wenn man mit der Klägerin den Treppenaufgang als Ganzes betrachte und davon ausgehe, dass die Treppe insgesamt von der ersten bis zur letzten Stufe hätte gesichert werden müssen, lasse sich nicht feststellen, dass die Beklagten grob fahrlässig gehandelt hätten. Denn nicht jeder Verstoß gegen die einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften sei als grob fahrlässig zu werten. Zwar bezweckten die in der hier einschlägigen Unfallverhütungsvorschrift vorgeschriebenen Maßnahmen, die die Beklagten bezogen auf den gesamten Treppenaufgang unterlassen hätten, den Schutz vor einem tödlichen Absturz. Das Fehlen der Absturzsicherung habe sich indessen hier nicht ausgewirkt, weil die Beklagten auch eine Absturzsicherung hätten anbringen können, die einen Meter über dem Treppenpodestboden geendet hätte. Bei normgerechtem Verhalten wäre der Unfall somit ebenfalls passiert.

II.

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Diese Ausführungen halten revisionsrechtlicher Überprüfung im Ergebnis stand. Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts sind die Voraussetzungen für einen Aufwendungsersatzanspruch aus § 110 Abs. 1 SGB VII nicht gegeben.

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1. Nach § 110 Abs. 1 Satz 1 SGB VII haften Personen, deren Haftung nach den §§ 104 bis 107 SGB VII beschränkt ist, den Sozialversicherungsträgern für die infolge des Versicherungsfalls entstandenen Aufwendungen, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt haben, jedoch nur bis zur Höhe des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs. Das Haftungsprivileg der §§ 104 ff. SGB VII bezweckt zum einen, mit der aus den Beiträgen der Unternehmer finanzierten, verschuldensunabhängigen Unfallfürsorge die zivilrechtliche auf Verschulden gestützte Haftung der Unternehmer abzulösen, indem sie über die Berufsgenossenschaften von allen dazugehörigen Unternehmen gemeinschaftlich getragen und damit für den jeweils betroffenen Unternehmer kalkulierbar wird. Sie dient dem Unternehmer als Ausgleich für die allein von ihm getragene Beitragslast. Zum andern soll mit ihr der Betriebsfrieden im Unternehmen zwischen diesem und den Beschäftigten sowie den Beschäftigten untereinander gewahrt werden. Dem liegt zugleich die Überlegung zugrunde, dass das Zusammenwirken im Betrieb je nach den daraus drohenden Gefahren leicht zu Schädigungen führen kann, so dass eine Haftung des Schädigers in der Regel als unbillig erscheint und nur dann Platz greifen soll, wenn ihn ein besonders schwerer Vorwurf trifft und deshalb eine Belastung der Versichertengemeinschaft nicht mehr vertretbar erscheint (Senatsurteil vom 27. Juni 2006 – VI ZR 143/05, BGHZ 168, 161 Rn. 8 mwN). Um die einer Berufsgenossenschaft angehörenden Unternehmen nicht über Gebühr zu belasten, hat der Gesetzgeber den Sozialversicherungsträgern einen Rückgriffsanspruch eingeräumt, weil diese dann für ihre Aufwendungen zu Lasten des verantwortlichen Schädigers (sei es der Unternehmer, sei es der Arbeitskollege) schadlos gestellt werden sollen, wenn der an sich nach den §§ 104 ff. SGB VII Haftungsprivilegierte den Unfall durch ein besonders zu missbilligendes Verhalten herbeigeführt hat. Bei einem solchen Verhalten sind neben dem das Schadensrecht beherrschenden Ausgleichsgedanken auch präventive und erzieherische Gründe zu berücksichtigen (Senat, aaO, Rn. 9 mwN).

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Die hier allein in Betracht kommende grobe Fahrlässigkeit setzt einen objektiv schweren und subjektiv nicht entschuldbaren Verstoß gegen die Anforderungen der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt voraus. Diese Sorgfalt muss in ungewöhnlich hohem Maß verletzt und es muss dasjenige unbeachtet geblieben sein, was im gegebenen Fall jedem hätte einleuchten müssen. Ein objektiv grober Pflichtenverstoß rechtfertigt für sich allein noch nicht den Schluss auf ein entsprechend gesteigertes personales Verschulden, nur weil ein solches häufig damit einherzugehen pflegt. Vielmehr erscheint eine Inanspruchnahme des haftungsprivilegierten Schädigers im Wege des Rückgriffs nur dann gerechtfertigt, wenn eine auch subjektiv schlechthin unentschuldbare Pflichtverletzung vorliegt, die das in § 276 Abs. 2 BGB bestimmte Maß erheblich überschreitet (Senatsurteile vom 18. Februar 2014 – VI ZR 51/13, VersR 2014, 481 Rn. 7; vom 30. Januar 2001 – VI ZR 49/00, VersR 2001, 985, 986, juris Rn. 11 f.; vom 12. Januar 1988 – VI ZR 158/87, VersR 1988, 474 f., juris Rn. 9; jeweils mwN).

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Grobe Fahrlässigkeit lässt sich daher nicht allein mit der Verletzung der geltenden Unfallverhütungsvorschriften begründen. Nicht jeder Verstoß gegen die einschlägigen Unfallverhütungsvorschriften ist schon als ein grob fahrlässiges Verhalten im Sinne des § 110 SGB VII zu werten. Vielmehr ist auch dann, wenn solche Verstöße gegen Sorgfaltsgebote vorliegen, eine Wertung des Verhaltens des Schädigers geboten, in die auch die weiteren Umstände des Einzelfalles einzubeziehen sind. So kommt es darauf an, ob es sich um eine Unfallverhütungsvorschrift handelt, die sich mit Vorrichtungen zum Schutz der Arbeiter vor tödlichen Gefahren befasst und elementare Sicherungspflichten zum Inhalt hat. Auch spielt insbesondere eine Rolle, ob der Schädiger nur unzureichende Sicherungsmaßnahmen getroffen oder von den vorgeschriebenen Schutzvorkehrungen völlig abgesehen hat, obwohl die Sicherungsanweisungen eindeutig waren. Im letzteren Fall kann der objektive Verstoß gegen elementare Sicherungspflichten ein solches Gewicht haben, dass der Schluss auf ein auch subjektiv gesteigertes Verschulden gerechtfertigt ist (Senatsurteile vom 18. November 2014 – VI ZR 141/13, VersR 2015, 193 Rn. 21; vom 18. Februar 2014 – VI ZR 51/13, VersR 2014, 481 Rn. 8; vom 30. Januar 2001 – VI ZR 49/00, VersR 2001, 985, 986 juris Rn. 14; vom 18. Oktober 1988 – VI ZR 15/88, VersR 1989, 109, 110, juris Rn. 11).

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2. Nach diesen Grundsätzen haben die Beklagten den Versicherungsfall nicht grob fahrlässig herbeigeführt.

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a) Wie das Berufungsgericht zutreffend erkannt hat, haben die Beklagten den Treppensturz des Geschädigten nicht durch einen Verstoß gegen die maßgebliche Unfallverhütungsvorschrift zur Absturzsicherung bei Bauarbeiten verursacht.

12
Zwar haben die Beklagten nach den Feststellungen des Berufungsgerichts jedenfalls in objektiver Hinsicht gegen § 12 Abs. 1 Nr. 2 der Unfallverhütungsvorschrift (UVV) „Bauarbeiten“ (BGV C22) in der Fassung von Januar 1997 (4. Nachtrag) verstoßen, indem sie am Unfalltag davon abgesehen haben, an der Treppe zwischen Erdgeschoss und 1. Obergeschoss eine Absturzsicherung anzubringen, obwohl die Treppengeländer zuvor im Zuge der Bauarbeiten abgebaut worden waren. Doch ist dieser Verstoß nicht kausal für den Sturz des Geschädigten geworden, da die konkrete Unfallstelle noch nicht von dem Gebot der Absturzsicherung erfasst war.

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Nach § 12 Abs. 1 Nr. 1 der UVV müssen Absturzeinrichtungen unabhängig von der Absturzhöhe vorhanden sein bei Arbeitsplätzen und Verkehrswegen an und über dem Wasser oder anderen flüssigen Stoffen, in denen man versinken kann. Freiliegende Treppenläufe und -absätze sind nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 der UVV darüber hinaus zu sichern bei mehr als 1,00 m Absturzhöhe. Absturzhöhe ist nach der Begriffsbestimmung in § 2 Abs. 5 der UVV der Höhenunterschied zwischen einer Absturzkante, einem Arbeitsplatz oder Verkehrsweg und der nächsten tiefer gelegenen, ausreichend breiten und tragfähigen Fläche, wobei die Absturzhöhe bei einer wie hier nicht mehr als 60 Grad geneigten Fläche von den jeweiligen Absturzkanten dieser Fläche gemessen wird. Nach der Regelungssystematik der UVV bestimmt sich die Notwendigkeit einer Absturzsicherung jenseits von § 12 Abs. 1 Nr. 1 der UVV folglich in Abhängigkeit von der an der jeweiligen Absturzkante zu messenden Absturzhöhe. Im Streitfall betrug die Absturzhöhe nach den Feststellungen des Berufungsgerichts von der dritten Stufe der vom Erdgeschoss in das erste Obergeschoss führenden Treppe, von welcher der Geschädigte stürzte, 50 cm. Eine Sicherungspflicht nach § 12 Abs. 1 Nr. 2 der UVV bestand daher an dieser Stelle noch nicht.

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Entgegen der Auffassung der Revision war der vom Geschädigten betretene Treppenlauf auch nicht deshalb insgesamt zu sichern, weil er in seinem oberen Teil eine Absturzhöhe von über einem Meter erreichte. Zwar mag die Anbringung eines durchgehenden Seitenschutzes in einem solchen Fall unter Umständen sinnvoll und wünschenswert sein, damit der Nutzer der Treppe nicht an einem bestimmten Punkt ins Leere greift. Eine generelle Verpflichtung zur durchgehenden Sicherung des Treppenlaufes bis zum Boden lässt sich der UVV angesichts der dort in § 2 Abs. 5 angelegten Maßgeblichkeit der jeweiligen Absturzhöhe jedoch nicht entnehmen. Hierfür spricht auch, dass der obere Teil des Treppenlaufes je nach den Umständen der konkreten Örtlichkeit seinerseits nicht notwendig sicherungspflichtig sein muss, etwa wegen einer hinzutretenden Seitenwand oder eines Seitenschutz bietenden gegenläufigen weiteren Treppenlaufes in das nächst höhere Geschoss.

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b) Im Übrigen dürfte selbst bei einem anzunehmenden Verstoß gegen § 12 Abs. 1 Nr. 2 der UVV nicht von grober Fahrlässigkeit im Sinne des § 110 Abs. 1 Satz 1 SGB VII auszugehen sein. Selbst wenn man nämlich davon ausgehen wollte, dass ein Treppenlauf insgesamt sicherungspflichtig wird, weil er im oberen Teil die Absturzhöhe von einem Meter überschreitet, kann jedenfalls für den unteren – für sich genommen nicht sicherungspflichtigen – Teil des Treppenlaufes nicht allgemein angenommen werden, dass die Sicherung dem Schutz der Arbeiter vor tödlichen Gefahren dient und elementare Sicherungspflichten zum Inhalt hat. Bei einem Sturz wie hier von der dritten Treppenstufe aus 50 cm Höhe ist nicht mit einem tödlichen Verlauf zu rechnen; entsprechend hat sich auch im Streitfall der Geschädigte zwar erheblich, aber doch bei weitem nicht lebensgefährlich verletzt. Ergänzend kommt hinzu, dass das Fehlen des Treppengeländers nach den Feststellungen des Berufungsgerichts immerhin mit einem Flatterband gekennzeichnet war.

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c) Nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts sind Anhaltspunkte für einen sonstigen, auch bei Einhaltung der Unfallverhütungsvorschriften in Ausnahmefällen grundsätzlich denkbaren (vgl. Wussow/Schneider, Unfallhaftpflichtrecht, 16. Aufl., Kap. 80 Rn. 406) groben Sorgfaltspflichtverstoß der Beklagten nicht ersichtlich.

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