KG, Urteil vom 11.10.2010 – 12 U 148/09
1. Im Falle des Reißverschlussverfahrens nach § 7 Abs. 4 StVO gilt: Das Fahrzeug, das sich auf dem durchgehenden Fahrstreifen befindet, genießt Vorrang vor demjenigen, das sich auf dem blockierten Fahrstreifen dem Hindernis nähert.
2. Dies gilt nur dann nicht, wenn der auf dem blockierten Fahrstreifen fahrende Kraftfahrer einen derartigen Abstand zu dem auf dem durchgehenden Fahrstreifen befindlichen Kraftfahrer hat, dass er noch gefahrlos auf den freien Fahrstreifen wechseln kann.
3. Kann nicht geklärt werden, ob der Unfall durch einen -streitigen – sorgfaltswidrigen Fahrstreifenwechsel des Beklagten oder sorgfaltswidrige Fahrweise des Klägers verursacht worden ist, kann der Schaden hälftig geteilt werden.
4. UPE-Aufschläge kann der fiktiv auf Gutachtenbasis abrechnende nur dann verlangen, wenn sie in der Werkstatt, deren Kosten der Sachverständige seinem Gutachten zugrund gelegt hat, auch tatsächlich anfallen. Entsprechendes gilt für Zuschläge auf Lackierkosten.
5. Bei Feststellung der Wertminderung des geschädigten Fahrzeugs sind Alter und Laufleistung keine Ausschlussgründe, sondern Faktoren, die bei der Schätzung nach § 287 ZPO zu berücksichtigen sind.
(Leitsätze des Gerichts)
Tenor
Auf die Berufung des Klägers, die im Übrigen zurückgewiesen wird, wird das am 21. Juli 2009 verkündete Urteil der Zivilkammer 24 des Landgerichts Berlin – 24 O 297/08 – teilweise abgeändert:
Die Beklagten werden verurteilt, an den Kläger vorgerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 43,32 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 3. Januar 2009 zu zahlen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die erstinstanzlichen Kosten des Rechtsstreits werden gegeneinander aufgehoben.
Von den Kosten der Berufungsinstanz haben der Kläger 95 % und die Beklagten 5 % zu tragen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe
1. Die zulässige, form- und fristgerecht eingelegte Berufung des Klägers hat lediglich hinsichtlich eines geringen Teils der Nebenforderung Erfolg.
a. Der Kläger hat keinen Anspruch gegen die Beklagten auf Zahlung weiteren Schadensersatzes aus dem Unfall vom 6. August 2008, gegen 6.15 Uhr in Berlin-Karlshorst, Straße Am Tierpark.
Das Landgericht hat im Ergebnis zu Recht erkannt, dass dem Kläger – bis auf einen Betrag in Höhe von weiteren 200,- EUR, den die Beklagten nach Eingang der Berufung gezahlt haben – kein über den bereits erhaltenen Betrag in Höhe von 2.882,25 EUR hinausgehender Anspruch zusteht.
aa. Den Ausführungen des Landgerichts kann allerdings nicht gefolgt werden, soweit es die Auffassung vertritt, der Kläger hätte – die Richtigkeit seiner Schilderung des Unfallhergangs vorausgesetzt – dem Beklagten zu 2. die Vorfahrt gewähren müssen, da dieser als erster an dem die Fahrbahn versperrenden Hindernis eingetroffen sei.
Nach dem Vorbringen des Klägers ist der Beklagte zu 2. ausgeschert, um ihn zu überholen und wollte dann wieder auf den von ihm, dem Kläger, weiterhin befahrenen Fahrstreifen zurück wechseln, als es zum Unfall kam. Damit ereignete sich die Kollision im unmittelbaren örtlichen und zeitlichen Zusammenhang mit einem Fahrstreifenwechsel des Beklagten zu 2., so dass der Beweis des ersten Anscheins dafür spräche, dass der Beklagte zu 2. den Unfall unter Verstoß gegen die Sorgfaltspflichten nach § 7 Abs. 5 StVO verursacht und verschuldet hat (Senat, Urteil vom 2. Oktober 2003 – 12 U 53/02 – KGR 2004, 106; Urteil vom 7. Juni 2001 – 12 U 10463/99; Hentschel/ König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 40. Aufl., § 7 StVO, Rn. 17). Eine Mithaftung des Unfallgegners kommt erst in Betracht, wenn der Fahrstreifenwechsler Umstände vorträgt und gegebenenfalls beweist, die ein Mitverschulden des Unfallgegners begründen.
Auf die Grundsätze des Reißverschlussverfahrens kann die Ablehnung der Haftung der Beklagten entgegen den Ausführungen des Landgerichts nicht gestützt werden. Ist nämlich das durchgehende Befahren eines Fahrstreifens nicht möglich, so ist den am Weiterfahren gehinderten Fahrzeugen der Übergang auf den benachbarten Fahrstreifen in der Weise zu ermöglichen, dass sich diese Fahrzeuge jeweils im Wechsel nach einem auf dem durchgehenden Fahrstreifen fahrenden Fahrzeug einordnen können. Dies bedeutet, dass „der Reißverschluss“ auf dem durchgehenden Fahrstreifen beginnt. Das Fahrzeug (hier nach seinem Vorbringen des Klägers), das sich auf dem durchgehenden Fahrstreifen befindet, genießt anerkanntermaßen den Vorrang vor demjenigen Fahrzeug, das sich auf dem blockierten Fahrstreifen dem Hindernis nähert (Senat, Urteil vom 7. Juni 1990 – 12 U 4191/89 – VerkMitt 1990, 91 Nr. 118; Urteil vom 8. Januar 1987 – 12 U 2618/87 – VerkMitt 1987 Nr. 82). Dies gilt nur dann nicht, wenn der auf dem blockierten Fahrstreifen vorausfahrende Kraftfahrer einen derartigen Abstand zu dem auf dem durchgehenden Fahrstreifen befindlichen Kraftfahrer hat, dass er noch gefahrlos in den freien Fahrstreifen hinüber wechseln kann. In diesem Fall braucht er dem auf dem nicht blockierten Fahrstreifen befindlichen Kraftfahrer nicht den Vorrang zu gewähren.
Ein solcher Abstand der beiden Fahrzeuge ist hier aber weder dem Vortrag der Parteien, noch der Ermittlungsakte zu entnehmen. Auch das Landgericht ist ersichtlich nicht von einem solchen Abstand ausgegangen, sondern davon, dass dem Beklagten zu 2. deshalb der Vorrang gebührte, weil er als Erster an dem Hindernis angekommen war. Dies allein ist aber nicht entscheidend.
bb. Die Wertung des Landgerichts, dass der Kläger nicht mehr als 50 % seines Schadens ersetzt verlangen kann, ist allerdings deshalb nicht zu beanstanden, weil der Hergang des streitgegenständlichen Verkehrsunfalls letztlich nicht aufgeklärt werden kann, da der Senat nicht die Überzeugung hat gewinnen können, dass es zu dem Unfall auf Grund eines unachtsamen Fahrstreifenwechsels durch den Beklagten zu 2. gekommen ist.
Der Senat hat den Kläger und den Beklagten zu 2. jeweils persönlich angehört. Der Kläger hat, seinem schriftsätzlichen Vorbringen entsprechend, erklärt, dass der Beklagte zu 2. an einer Baustellenausbuchtung nach links ausgeschert sei und nach dem Überholen wieder nach rechts auf den ursprünglichen Fahrstreifen habe einfahren wollen.
Der Beklagte zu 2. hingegen hat angegeben, die Spur die ganze Zeit gehalten zu haben, wobei der Kläger an der Bushaltestelle auf der dort etwas verbreiterten Spur rechts von ihm angefahren gekommen sei.
Auch unter Hinzuziehen der unmittelbar nach dem Unfall gefertigten Fotos – Bl. 23 und 25 der Ermittlungsakte – ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, welches Vorbringen zutreffend ist. Auf den Fotos ist zwar zu erkennen, dass das Fahrzeug des Klägers rechts von dem Fahrzeug des Beklagten zu 2. steht, wobei letzteres etwa eine halbe Fahrzeuglänge nach vorn versetzt zum Stehen gekommen ist. Ob sich allerdings das Fahrzeug des Beklagten zu 2. bei einem Fahrstreifenwechsel befand, mithin das Vorbringen des Klägers zutreffend ist, kann den Fotos nicht entnommen werden. Insbesondere ist auf den Fotos auch die von dem Kläger vorgebrachte Ausbuchtung, in welcher der Überholvorgang des Beklagten zu 2. stattgefunden haben soll, nicht zu erkennen. Eine von dem Beklagten zu 2. vorgebrachte nach rechts verbreiterte Spur ist ebenfalls nicht zu erkennen.
Da ebenfalls nicht festgestellt werden konnte, dass einer der beiden Aussagen der Beteiligten vor der anderen der Vorzug zu geben wäre, kann letztlich nicht geklärt werden, ob der Unfall durch einen unachtsamen Spurwechsel des Beklagten zu 2. oder durch einen sorgfaltswidrigen Überholvorgang des Klägers verursacht worden ist, so dass es bei einer Haftungsquote von 50 % verbleibt.
b. Dem Kläger steht ein Anspruch damit lediglich in Höhe von 3.082, 25 EUR zu, der sich wie folgt berechnet:
5.861,37 EUR Nettoreparaturkosten laut Gutachten des Klägers
abzüglich 376,70 EUR UPE-Aufschläge Ersatzteile
303,10 EUR Lackierkosten
169,- EUR Lohnkosten
5.012,57 EUR Nettoreparaturkosten.
+ 400,- EUR Wertminderung
+ 731,92 EUR Sachverständigenkosten
+ 20,- EUR Kostenpauschale
= 6.164,49 EUR
x 50 % = 3.082,25 EUR.
aa. Der Kläger hat für seine Behauptung von höheren Kosten hinsichtlich der Ersatzteile, der Lackierkosten und der Lohnkosten keinen Beweis angetreten.
Zwar ergibt sich aus dem von ihm im Termin vom 6. September 2010 nunmehr vollständig vorgelegten Gutachten, dass der von ihm beauftragte Gutachter bei der Berechnung der Reparaturkosten einen 12 %-tigen Aufschlag auf die Ersatzteilkosten kalkuliert hat (so genannte UPE-Aufschläge).
Aufschläge von Fachwerkstätten für Ersatzteile kann nach der Rechtsprechung des Kammergerichts auch der lediglich auf fiktiver Basis abrechnende Geschädigte geltend machen. Dies gilt jedoch nur dann, wenn die Kosten auch tatsächlich anfallen würden (vgl. KG, Urteil vom 10. September 2007 – 22 U 224/06 – KGR 2008, 610).
Die Beklagten haben jedoch bestritten, dass diese Kosten in der Audi-Werkstatt Marzahn, nach deren Preisen der Gutachter des Klägers die Kosten kalkuliert hat, überhaupt anfallen. Der Kläger hat für seine durch Vorlage des Gutachtens gegenteilige Behauptung keinen Beweis angetreten.
Gleiches gilt für die vom Kläger durch Vorlage seines Gutachtens behaupteten höheren Lackier- und Lohnkosten, als diese von den Beklagten zugestanden werden. Auch insoweit hat der Kläger für seine Behauptung, die von dem Gutachter aufgeführten höheren Kosten wären angefallen, keinen Beweis angetreten, nachdem die Beklagten substantiiert vorgetragen haben, welche niedrigeren Kosten die Audi-Werkstatt Marzahn berechnen würde.
bb. Nicht gehört werden können die Beklagten jedoch damit, dass auf Grund des Alters des Fahrzeugs des Klägers eine Wertminderung nicht berücksichtigt werden kann. Eine Grenze für die Berechtigung einer Wertminderung besteht weder hinsichtlich des Alters eines Fahrzeugs, noch hinsichtlich dessen Laufleistung. Beides sind keine Ausschlusskriterien, sondern lediglich Faktoren der Berechnung einer Wertminderung (vgl. hierzu OLG Oldenburg, Urteil vom 1. März 2007 – 8 U 246/06 – MDR 2007, 1369). Der Gutachter des Klägers hat angegeben, dass die Wertminderung unter Berücksichtigung sämtlicher Faktoren wie Alter, Zustand, Schadenumfang und regionale Marktsituation bemessen wurde. Dass und warum dies falsche sein soll, haben die Beklagten substantiiert nicht vorgebracht.
Ebenfalls kein weiterer Abzug der begründeten Reparaturkosten ergibt sich hinsichtlich der Erneuerung von zwei Reifen. Wie der Kläger zutreffend vorgetragen hat, ist dieser Abzug in Höhe von 326,14 EUR netto von dem Gutachter des Klägers bei dessen Berechnung bereits berücksichtigt, was auch die Beklagten in ihrer Berufungserwiderung erkannt haben. Weshalb dieser Betrag nun nochmals in Abzug gebracht werden sollte, erschließt sich nicht.
c. Hinsichtlich der als Nebenforderung geltend gemachten vorgerichtlichen Rechtsanwaltskosten ergibt sich unter zu Grunde legen eines Streitwertes in Höhe von 3.082,25 EUR eine Gebühr in Höhe von 359,50 EUR. Unter Berücksichtigung der erfolgten Zahlung von 316,18 EUR waren die Beklagten demnach noch zur Zahlung in Höhe von weiteren 43,32 EUR zu verurteilen.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 91a, 92 Abs. 1 ZPO.
Soweit die Parteien den Rechtsstreit in Höhe von 200,- EUR übereinstimmend in der Hauptsache für erledigt erklärt haben, war über die Kosten nach billigem Ermessen nach dem bisherigen Sach- und Streitstand zu entscheiden. Dies führte dazu, den Beklagten die Kosten insoweit anteilig aufzuerlegen, weil die Berufung des Klägers ohne die Erledigungserklärung Erfolg gehabt hätte, da dem Kläger nach den obigen Ausführungen ein Anspruch in Höhe von 3.082,25 EUR zustand, die Beklagten bis dahin jedoch lediglich Zahlungen in Höhe von 2.882,25 EUR geleistet hatten.
3. Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf § 708 Nr. 10 ZPO und § 713 ZPO.
4. Die Revision war nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordert (§ 543 Abs. 2 ZPO).