Zum Rechtmäßigkeit der Anordnung eines sofortigen Ausschlusses vom Unterricht gegen ein ca. achtjähriges Kind

VG Hannover, Beschluss vom 2. März 2015 – 6 B 1123/15

Zum Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung eines Ausschlusses vom Unterricht gegen ein ca. achtjähriges Kind

Gründe
I.

Der Antragsteller beansprucht vorläufigen Rechtsschutz gegen die sofortige Vollziehung einer Schulordnungsmaßnahme.

Der am D.. E. 2007 geborene Antragsteller wurde mit Beginn des Schuljahres 2013/2014 im Alter von fünfeinhalb Jahren bei der Antragsgegnerin, einer Grundschule in F., eingeschult und besucht dort gegenwärtig den 2. Schuljahrgang. Mit Bescheid vom 6. Februar 2015 schloss die Schulleiterin den Antragsteller im Wege der Eilmaßnahme unter Anordnung der sofortigen Vollziehung für die Zeit vom 9. Februar bis zu der auf den 11. Februar 2015 bestimmten Klassenkonferenz vom Unterricht aus.

Die unter Teilnahme der Eltern des Schülers durchgeführte Klassenkonferenz der Klasse 2b fasste am 11. Februar 2015 den Beschluss, den Antragsteller vom 12. Februar bis 13. März 2015 weiterhin vom Unterricht auszuschließen und insoweit die sofortige Vollziehung der Ordnungsmaßnahme anzuordnen, ferner den mobilen Dienst der Schule G., einer Förderschule mit dem Schwerpunkt Emotionale und Soziale Entwicklung in H., sowie einen Schulpsychologen einzuschalten, die Eltern des Antragstellers um eine intensivere Zusammenarbeit mit einer namentlich genannten Praxis für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie zu bitten und ihnen die Beantragung der Bewilligung einer Schulbegleitung für ihren Sohn vorzuschlagen.

Der Eilmaßnahme der Schulleiterin und dem Beschluss der Klassenkonferenz waren unter anderem folgende Ereignisse vorangegangen:

Am x. Dezember 2014 war der Schüler von der Lehrkraft während des von ihm gestörten Musikunterrichts einer generellen Absprache mit den Eltern folgend ins sog. „Aquarium“ im Schulgebäude geschickt worden. Als er sich allerdings davon abweichend auf den Schulhof begab und von einer Lehrkraft zurückgeholt werden sollte, schrie er „Geh weg!“ und fuhr mit seinem Fahrrad nach Hause.

Am x. Dezember 2014 wollte der Antragsteller sich vor dem Unterricht nicht in den Klassenraum begeben. Dabei biss, kniff und trat er Lehrkräfte und die Schulsekretärin.

Am xx. Januar 2015 wurde der Junge von Mitschülern im Mathematikunterricht auf einen Fehler hingewiesen. Daraufhin begann er zu knurren und zu fauchen, er errötete und kreischte mit aller Kraft. Er kam der Bitte des Lehrers sich zu beruhigen, nicht nach, so dass dieser die Klassenlehrerin hinzuzog. Als auch diese versuchte, den Antragsteller zu beruhigen, wurde dieser noch aggressiver, indem er auf seine Mitschülerinnen und Mitschüler eintrat und einschlug und die Lehrkräfte angriff. Eine in der Schule tätige Einzelfallhelferin zerrte ihn schließlich in einen benachbarten Klassenraum.

Am xx. Januar 2015 kauerte der Antragsteller nach Schilderung des Mathematiklehrers zu Beginn der Stunde nicht ansprechbar auf seinem Stuhl, wobei ihm die Wahl der Mitarbeit gelassen wurde. Nach einiger Zeit setzte er sich auf den Tisch und warf mit Muggelsteinen um sich. Als der Mathematiklehrer ihn aufforderte, vom Tisch zu gehen, versuchte der Antragsteller schreiend den Lehrer zu schlagen und zu beißen, woraufhin die Eltern des Schülers informiert wurden.

Am selben Tag weigerte sich der Schüler während der Betreuungszeit, sich vor dem Spiel auf dem Schulhof einen Partner zu suchen, damit die Gruppe geschlossen auf den Pausenhof gehen konnte. Der Antragsteller „grummelte/schnaubte“ dabei mit gesenktem Kopf, ohne Augenkontakt mit der pädagogischen Mitarbeiterin aufzunehmen. Den Vorschlag, mit ihr allein nach draußen zu gehen, ignorierte er ebenso wie die Ansprache durch eine hinzugezogenen Lehrkraft, die ihm anbot, im Schulflur zur Ruhe zu kommen und Bescheid zu geben, wenn er nach draußen gehen wollte. Dazu zeigte die Lehrkraft auf die weiterhin geöffnet bleibende Tür zu dem Klassenraum, in dem sie währenddessen unterrichtete. Der Antragsteller begann stattdessen, die Schuhregale heftig hin- und herzuschieben und mit Schuhen um sich zu werfen, woraufhin die Mutter des Schülers telefonisch benachrichtigt wurde, um ihn abzuholen. Während der Wartezeit wurde er von einer Einzelfallhelferin beaufsichtigt, dabei begann er, mit dem Körper hin- und herzuschaukeln und mit dem Kopf gegen die Wand zu schlagen.

Am x. Februar 2015 berichteten Schüler und eine Praktikantin, dass der Antragsteller im Sportunterricht zunächst wieder geschrien, sich dann aber wieder beruhigt habe. Im späteren Mathematikunterricht begann der Schüler Brumm- und Knurrgeräusche zu machen, woraufhin der Lehrer den Jungen absprachegemäß aufforderte, den Raum zu verlassen um sich zu beruhigen. Er kam dieser Aufforderung nicht nach, sondern steigerte die Knurrgeräusche, stieg auf einen Stuhl und begann, extrem laut, durchdringend und in hoher Frequenz zu schreien. Nachdem die Mitschülerinnen und Mitschüler auf den Flur geschickt worden waren, warf der Antragsteller Schülermaterialien durch den Raum und kippte Stühle um. Dann verließ er knurrend und schreiend den Klassenraum und lief auf die Mitschüler zu, die sich in den Klassenraum zurückflüchteten. Der Antragsteller verfolgte diese, warf im Klassenraum weiterhin mit Gegenständen und schrie immer wieder laut und durchdringend, woraufhin die Klasse unter Aufsicht auf den Pausenhof geleitet und die Klassentür, hinter der der Junge weiterhin Gegenstände warf, geschlossen wurde, um die übrigen Schulkinder vor dem extremen Lärm zu schützen.

Die Schulleiterin der Antragsgegnerin führte den Beschluss der Ordnungsmaßnahme mit Bescheid vom 18. Februar 2015 aus, wobei sie den Konferenzbeschluss im Anordnungsausspruch des Bescheids mit „Ausschluss vom Unterricht vom 09.02.2013 bis einschl. 13.03.2015“ bezeichnete und die sofortige Vollziehung dieser Maßnahme anordnete.

Zur Begründung führte sie aus, der Antragsteller gefährde durch sein von der Konferenz behandeltes Verhalten die Sicherheit und Gesundheit von Menschen. Mitschüler litten körperlich unter seinen Verhaltensweisen und hätten vor ihm Angst. Der Mathematiklehrer habe bereits einen bleibenden Hörschaden davongetragen. Außerdem beeinträchtige er den Schulbetrieb nachhaltig und schwer, weil der Unterricht in seiner und in anderen Klassen verhaltensbedingt unterbrochen werden müsse und zeitweise nicht mehr möglich sei.

Der Antragsteller hat gegen den Bescheid am 19. Februar 2015 Widerspruch erhoben und zeitgleich im vorliegenden Verfahren um vorläufigen Rechtsschutz gegen den Sofortvollzug der Ordnungsmaßnahme nachgesucht.

Der Antragsteller ist der Ansicht, dass die Ordnungsmaßnahme unverhältnismäßig sei, zumal in seinem Fall vor dem Unterrichtsausschluss weder Erziehungsmittel angewandt noch andere Ordnungsmaßnahmen getroffen worden seien. Der Antragsteller behauptet, die Fachärztin Dr. I. habe bei ihm im Herbst des vergangenen Jahres eine Hochbegabung festgestellt und er verhalte sich zu Hause in seinem familiären Umfeld unauffällig, Probleme träten nur in der Schule auf. Er habe deshalb einen besonderen Förderbedarf und benötige für seine psychiatrisch festgestellten Schwierigkeiten keine Bestrafung sondern einen Hilfeplan. Eine mögliche Erklärung für die offensichtlichen Auffälligkeiten in seinem Verhalten sei die Unterforderung im Unterricht. Dennoch leiste die Antragsgegnerin eine diesbezügliche Förderung in der Schule nicht. Die Entscheidung über den Unterrichtsausschluss sei ermessenfehlerhaft getroffen worden. Der Bescheid vom 18. Februar 2015 enthalte keinerlei Angaben zu einer Analyse und Diagnose der Situation als Grundlage für pädagogische Maßnahmen, die zu einer Verhaltensänderung führen könnten und gehe auch nicht darauf ein, dass von allen denkbaren Hilfemöglichkeiten in der Vergangenheit nichts durchgeführt worden sei. Dass jetzt ein mehrwöchiger Unterrichtsausschluss beschlossen worden sei, obwohl man die möglichen Hilfemaßnahmen noch am 5. Februar 2015 an einem runden Tisch erörtert habe, mache deutlich, dass die Antragsgegnerin in seinem Fall kein pädagogisches Konzept habe. Außerdem zeige der Bescheid, dass sich die Schule nicht an die mit den Eltern getroffenen Absprachen bezüglich der Gefühlsampel, einer Ärgerecke und des Einsatzes eines Handschmeichlers gehalten habe. Schließlich wäre angesichts der Häufung der Vorfälle im Mathematikunterricht zu erwägen gewesen, ob nicht ein Ausschluss vom Unterricht in diesem Fach ausgereicht hätte. Abschließend vertritt der Antragsteller die Auffassung, dass die schriftliche Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht ausreiche, weil sie nur formelhaft sei und keinen Bezug zum vorliegenden Einzelfall aufweise.

Der Antragsteller beantragt,

die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 18. Februar 2015 wiederherzustellen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Die Antragsgegnerin vertritt die Auffassung, dass der Antragsteller grobe Pflichtverletzungen begangen und den Schulbetrieb nachhaltig und schwer beeinträchtigt habe. Der mehrwöchige Schulausschluss sei nicht unverhältnismäßig, denn die dem Schüler gebotene Möglichkeit des „sich Ausärgerns“ bedeute nicht, dass er seine Wut frei austoben und die Anweisungen der Lehrkräfte missachten dürfe. Ihm müsse vor Augen geführt werden, dass insbesondere gewalttätiges Verhalten und Sachbeschädigungen erhebliche Konsequenzen nach sich zögen.

Wegen des weiteren Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge (Beiakte A) Bezug genommen.

II.

Der auf die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gegen die sofortige Vollziehung des Bescheides der Antragsgegnerin vom 18. Februar 2015 gerichtete Antrag ist zulässig.

Das Gericht lässt es offen, ob sich die Zulässigkeit des Antrags aus § 80 Abs. 5 Satz 1 in Verbindung mit Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ergibt, weil der Widerspruch gegen den Ausschluss vom Unterricht gemäß § 61 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 2 Niedersächsisches Schulgesetz (NSchG) kraft Gesetzes keine aufschiebende Wirkung entfaltet oder ob sich dieser gesetzliche Ausschluss des Suspensiveffekts nicht auf den Ausschluss vom Unterricht, sondern nur auf die Ordnungsmaßnamen bezieht, deren Anordnung unmittelbar ein gesetzliches Betretensverbot auslösen, was zur Folge hätte. Letzteres hätte zur Folge, dass die am 18. Februar 2015 von der Antragsgegnerin getroffene Anordnung der sofortigen Vollziehung nicht ins Leere ginge (so noch Beschluss des Gerichts vom 12.12.2014 – 6 B 13234/14 -; n. v.).

Jedenfalls ist der Antrag unbegründet.

Entgegen der von dem Antragssteller vertretenen Auffassung enthält der angegriffene Bescheid der Antragsgegnerin vom 18. Februar 2015 eine gesonderte schriftliche Begründung des besonderen öffentlichen Vollzugsinteresses im Sinne von § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Diese ist zwar kurz gehalten, lässt aber im Zusammenhang mit der ihr vorangehenden Begründung der Ordnungsmaßnahme einen hinreichenden Bezug zum Einzelfall erkennen. Ob die Begründung den Sofortvollzug der Maßnahme trägt, ist hingegen eine Frage der gerichtlichen Abwägung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO.

Die Abwägung zwischen dem privaten Interesse des Antragstellers, vorläufig vom weiteren Vollzug des Unterrichtsausschlusses verschont zu bleiben und dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts geht zu Ungunsten des Antragsstellers aus. Maßgebend hierfür ist, dass das Rechtsschutzbegehren nach dem gegenwärtigen Stand des Sachverhalts in der Hauptsache keinen Erfolg haben wird.

Bei summarischer Prüfung bestehen ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheids vom 19. Februar 2015 nur, soweit darin der Unterrichtsausschluss für den Zeitraum vom 9. Februar 2015 bis zum 11. Februar 2015 angeordnet worden ist. Zwar beruht das im Entscheidungsausspruch auf Seite 1 des Bescheids genannte falsche Datum des „09.02.2013“ auf einem offensichtlichen Schreibfehler, dem für sich genommen noch nicht zum Erfolg des Widerspruchs führt (vgl. § 42 Satz 1 VwVfG). Entscheidend für die teilweise Rechtswidrigkeit des Bescheids ist aber, dass der für die Anordnung der Ordnungsmaßnahme nach § 61 Abs. 5 Satz 1 NSchG erforderlich Konferenzbeschluss einen Unterrichtsausschluss des Schülers ausdrücklich nur für die Zeit vom 12. Februar bis 13. März 2015 beinhaltet. Soweit der von der Schulleiterin gefertigte Bescheid auch den Zeitraum vom 9. Februar 2015 bis zum 11. Februar 2015 in den Unterrichtsausschluss erfasst, ist er angesichts der dem entgegenstehenden Beweises durch die Konferenzniederschrift (§ 418 Abs. 1 ZPO) offenbar rechtswidrig. Dies allerdings rechtfertigt nicht die teilweise Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs, denn im Zeitraum vom 9. Februar 2015 bis zum 11. Februar 2015 war der Unterrichtsausschluss bereits aufgrund des im vorliegenden Verfahren nicht streitbefangenen Bescheids der Schulleiterin vom 6. Februar 2015 (Eilmaßnahme) vollzogen worden, ohne dass dies noch rückgängig zu machen wäre. Eines vorläufigen Rechtsschutzes hinsichtlich der Vollziehung des Unterrichtssauschlusses für die Zeit bis zum 11. Februar 2015 bedarf es somit nicht.

Auch im Übrigen wird der Rechtsbehelf in der Hauptsache mit überwiegender Wahrscheinlichkeit erfolglos bleiben.

Die Anordnung der Ordnungsmaßnahme auf der Grundlage des Beschlusses der Klassenkonferenz vom 11. Februar 2015 ist nach dem gegenwärtig bekannten Sachverhalt in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden. Die Eltern des Antragstellers haben den Termin der Klassenkonferenz wahrnehmen und sich nach § 61 Abs. 6 Satz 1 NSchG zu dem für die Ordnungsmaßnahme entscheidenden Sachverhalt äußern können. Mit Verbindlichkeit für das Verfahren auf vorläufigen Rechtsschutz geht das Gericht davon aus, dass formelle Fehler bei der Beschlussfassung durch die nach § 36 Abs. 3 Satz 1 NSchG stimmberechtigten Konferenzmitglieder nicht vorliegen.

Der Bescheid vom 19. Februar 2015 ist nach dem derzeitigen Sachstand auch materiell rechtmäßig, soweit darin der noch vollziehbare Unterrichtsausschluss für die Zeit vom 12. Februar bis 13. März 2015 angeordnet worden ist. Er findet seine Rechtsgrundlage in § 61 Abs. 2 und Abs. 3 Nr. 3 NSchG. Danach sind Ordnungsmaßnahmen in der Gestalt eines Ausschlusses vom Unterricht sowie von dem den Unterricht ergänzenden Förder- und Freizeitangebot für die Dauer von bis zu drei Monaten zulässig, wenn ein Schüler seine Pflichten grob verletzt, insbesondere gegen rechtliche Bestimmungen verstößt, den Unterricht nachhaltig stört, die von ihnen geforderten Leistungen verweigert oder dem Unterricht unentschuldigt fernbleibt. § 61 Abs. 4 Satz 1 NSchG bestimmt dazu ergänzend, dass der Schüler für eine Ordnungsmaßnahme § 61 Abs. 3 Nr. 3 die Sicherheit von Menschen ernstlich gefährdet oder den Schulbetrieb nachhaltig und schwer beeinträchtigt hat.

Diese Voraussetzungen sind im Fall des Antragstellers zweifelsfrei erfüllt.

Der Antragsteller hat durch sein in den oben dargestellten Vorfällen gezeigtes Verhalten in der Schule nicht nur den Unterricht nachhaltig gestört, so dass dieser teilweise nicht mehr möglich war. Er hat zugleich auch die Sicherheit von Menschen ernstlich gefährdet, wie die Auswirkungen seines aggressiven Verhaltens in Situationen des Kontrollverlustes gegenüber Mitschülerinnen und Mitschülern (Jagen, Treten und Schlagen) und Lehrkräften sowie Beschäftigten der Schule (Beißen, Kneifen, Treten) zeigen. Dieses Verhalten geht über eine bloße Gefährdung der Sicherheit der Betroffenen hinaus und hat dabei den Unterricht nachhaltig und schwer gestört. Die beschriebenen Vorfälle während der Unterrichts-, Pausen und Betreuungszeit sind naturgemäß nicht ohne erhebliche Folgen auf das Unterrichtsgeschehen und die schulische Situation der Mitschülerinnen und Mitschüler geblieben, wie die beschriebene panische Reaktion der übrigen Klasse am x. Februar 2015 zeigt. Dass die Mitschülerinnen und Mitschüler des Antragstellers angesichts ihres noch jungen Alters und ihres Entwicklungsstandes durch eine derart extremes Verhalten, das in seiner Lautstärke nach dem insoweit nicht bestrittenen Vortrag der Antragsgegnerin bereits zu einer gesundheitlichen Beeinträchtigung des Mathematiklehrers geführt haben soll, verängstigt und verstört und damit an ihrer unbefangenen Arbeit in der Schule gehindert werden können, liegt auf der Hand. Dass sich das Verhalten des Antragstellers auf den Mathematikunterricht beschränkt hätte und damit allenfalls die Voraussetzungen eines fächerbezogenen Unterrichtsausschlusses nach § 61 Abs. 3 Nr. 1 NSchG vorlägen, trifft in Anbetracht des dokumentierten Sachverhalts offensichtlich nicht zu.

Die Klassenkonferenz hat sich bei der Entscheidung für die Auswahl und den Rahmen der Ordnungsmaßname nach dem derzeitigen Erkenntnisstand auch im Rahmen des ihr nach § 61 Abs. 2 NSchG eröffneten Ermessens gehalten. Soweit der Antragsteller einwendet, er benötige Hilfe und keine Bestrafung, verkennt er, dass das Ziel einer Ordnungsmaßnahme nicht in erster Linie darauf gerichtet ist, auf die Person des betroffenen Schülers erzieherisch einzuwirken oder ihn zu „bestrafen“. Um dem Zweck einer Ordnungsmaßnahme, den geordneten Schulbetrieb aufrecht zu erhalten, hinreichend gerecht werden zu können, ist nach ständiger Rechtsprechung der Kammer (grundlegend: Beschluss vom 22.10.2002 – 6 B 4297/02 -, juris) zunächst in erster Linie auf den objektiven Geschehensablauf abzustellen. Demzufolge sind langwierige Ermittlungen über die „Schuldfähigkeit“ des betroffenen Schülers oder die entwicklungsbedingten Ursachen seines Verhaltens, wie dies etwa im Strafverfahren gegen Jugendliche und Heranwachsende notwendig ist, vor dem Ergreifen einer Ordnungsmaßnahme in der Regel nicht angezeigt. Denn die Schule muss gegebenenfalls rasch auf mögliche Ordnungsverstöße reagieren können, um in der Lage zu sein, schnellstmöglich die schulische Ordnung wiederherzustellen und etwaige weitere Gefahren abzuwehren. Insoweit hat eine schulrechtliche Ordnungsmaßnahme nicht primär Sanktionscharakter. Sie stellt in erster Linie ein Mittel dar, um tatsächlichen Störungen des Schulbetriebs, die von einem Schüler ausgehen, zu begegnen und diese durch die Reaktion mit der Maßnahme zu beseitigen (Beschluss der Kammer vom 22.10.2002, a. a. O.). Insoweit unterscheidet sich die Ordnungsmaßnahme gerade von dem als individuelle erzieherische Einwirkung konzipierten Erziehungsmittel nach § 61 Abs. 1 NSchG.

Bei der Beurteilung dessen, was aus pädagogischer Sicht als Reaktion auf einen solchen Befund angemessen ist, steht der Klassenkonferenz nicht nur ein Ermessen, sondern auch ein von der Widerspruchsbehörde und dem Verwaltungsgericht nach Maßgabe der Kriterien des § 121 Abs. 2 NSchG nur eingeschränkt überprüfbarer Wertungsspielraum zu. Pflichtverletzungen im Sinne von § 61 Abs. 2 NSchG machen eine Bewertung der Klassenkonferenz erforderlich, die vor allem in der pädagogischen und psychologischen Beurteilung der Person und des Verhaltens des von der Maßnahme betroffenen Schülers und der Auswirkung seiner Pflichtwidrigkeit auf den Schulbetrieb besteht. Diese Bewertung entzieht sich einer Überprüfung nach allein rechtlichen Kriterien. Sie ist nach § 50 Abs. 1 Satz 1 NSchG Teil der pädagogischen Verantwortung der Lehrkräfte und setzt nicht nur ein entsprechendes Fachwissen, sondern auch eine pädagogische Einschätzung der konkreten schulischen Situation voraus. Deshalb wird eine angefochtene Ordnungsmaßnahme rechtlich nur darauf überprüft, ob die Voraussetzungen für ihre Anwendung vorliegen, ob die bestehenden Verfahrensvorschriften eingehalten worden sind, ob das zuständige Schulorgan gehandelt hat, ob von dem Ermessen ein dem gesetzlichen Zweck entsprechender Gebrauch gemacht worden ist, ob von einer richtigen und vollständigen Tatsachengrundlage ausgegangen worden ist und keine sachfremden Erwägungen angestellt worden sind, ob gleichgelagerte Fälle nicht ohne sachliche Rechtfertigung ungleich behandelt worden sind und ob die ausgewählte Maßnahme geeignet und verhältnismäßig ist (Nds. Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 25.04.2007 – 2 ME 382/07 -, NVwZ – RR 2007 S. 529 ff.; Beschluss vom 26.01.2010 – 2 ME 444/09 -, NVwZ-RR 2010 S. 394).

Daran gemessen ist die von der Klassenkonferenz der Klasse 2b gewählte Ordnungsmaßnahme, die im Ergebnis zu einem ununterbrochenen Unterrichtsausschluss von fünf Wochen führt, mit Verbindlichkeit für die Entscheidung im Verfahren auf vorläufigen Rechtsschutz rechtlich nicht zu beanstanden.

Nach Auffassung der Kammer ist ein mehrwöchiger Ausschluss vom Unterricht auch dann grundsätzlich geeignet, die Zielsetzung der Ordnungsmaßnahme (s. oben) zu gewährleisten, wenn es um die Reaktion auf ein Schülerverhalten geht, dem möglicherweise eine seelische Störung des Kindes zugrunde liegt. Dies ist von der Kammer bereits hinsichtlich des Unterrichtsausschlusses eines Kindes entschieden worden, das an einer autistischen Störung litt und Mitarbeiterinnen der Schule durch Bisse verletzt hatte (Beschluss der Kammer vom 22.10.2002, a. a. O.). Geeignet und verhältnismäßig ist ein solcher Unterrichtsausschluss jedenfalls dann, wenn er wie im vorliegenden Fall die erste Reaktion auf das extreme Verhalten eines Schülers darstellt und sich dabei erkennbar auf eine situativ bedingte Ausnahmeentscheidung beschränkt. Dabei hat die Klassenkonferenz im Rahmen ihrer Entscheidung auch zu berücksichtigen, wie einem extremen, offensichtlich nicht oder nur eingeschränkt willentlich gesteuerten Verhalten eines Schülers in der Zukunft in geeigneter Weise begegnet werden kann (Beschluss der Kammer vom 22.10.2002, a. a. O.). Es liegt auf der Hand, dass Ordnungsmaßnahmen ihr Ziel dann nicht mehr erfüllen und zur Ordnung des Schulbetriebs beitragen können, wenn sie wegen des Vorliegens einer therapiebedürftigen Störung des Kindes wiederholt angeordnet werden müssen.

Danach sind Ermessensfehler des Konferenzbeschlusses vom 11. Februar 2015 nicht ersichtlich. Dass die Klassenkonferenz im Fall des Antragstellers von einer unzutreffenden und nach Maßgabe der Ermittlungsmöglichkeiten der Schule unvollständigen Tatsachengrundlage ausgegangen wäre, ist nicht erkennbar. Dass sich die von der Klassenkonferenz behandelten Vorfälle aus der Zeit vom 2. Dezember 2014 bis 6. Februar 2015 wie von der Antragsgegnerin dokumentiert ereignet haben, ist im Wesentlichen unstreitig. Ferner lässt sich aus dem Vortrag der Beteiligten und den vorgelegten Verwaltungsvorgängen nicht entnehmen, dass die Klassenkonferenz gesicherte Erkenntnisse dazu hatte, dass der Antragsteller mit seinen Pflichtverletzungen ein krankheitsbedingtes Verhalten zeigt, welches bereits Gegenstand einer eingeleiteten Therapie ist. Nur in diesem Fall könnte die Ordnungsmaßnahme abwägungsfehlerhaft sein, weil sich dann im Hinblick auf die ohnehin schon bestehende krankheits- oder störungsbedingte Belastung des Schulkindes die Frage der Verhältnismäßigkeit des Unterrichtsausschlusses grundlegend anders stellen könnte. Das setzt aber voraus, dass der Schule ein krankheitsbedingter Hintergrund des Schülerverhaltens als gesicherte Erkenntnis positiv bekannt ist. Das ist hier nicht der Fall. Der durch seine Eltern gesetzlich vertretene Antragsteller hat bisher nicht die Diagnose offenbart, die Anlass für die Einleitung der am runden Tisch am x. Februar 2015 von der Fachärztin für Kinder-und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie Dr. I. angesprochenen, gegenwärtig „noch nicht greifenden“ Gruppentherapie ist. Auch die Antragsbegründung enthält hierzu keinerlei Angaben, die über die bloße Behauptung der Diagnose einer Hochbegabung hinausgingen und den fachärztlich festgestellten Hintergrund der „phänomenologischen Auffälligkeit“ des Jungen erhellen könnten. Dafür, dass das Verhalten des Antragstellers nach Auffassung seiner Eltern eine „gesunde psychische Reaktion“ auf eine traumatisch erlebte „andauernde Ansprache durch Lehrkräfte sowie die teilweise physischen Übergriffe“ wäre, ist in der Antrags- und Widerspruchsbegründung nichts Greifbares vorgetragen worden. Insbesondere haben die Eltern des Antragstellers den Vorwurf „physischer Übergriffe“ auf ihren Sohn nicht substantiiert. Demgegenüber haben bei dem Antragsteller jeweils normale Schul- und Unterrichtssituationen wie eine Unterrichtsanweisung im Mathematikunterricht, das geordnete Hinausgehen in den Pausenhof, die bloße Ansprache durch Mitschülerinnen und Mitschüler bei der Unterrichtsarbeit oder Beruhigungsversuche der Klassenlehrerin zu einem Verhalten geführt, dass sich objektiv als jeweils unkontrollierter, sich ständig steigernder Wutausbruch darstellt und in Gewalthandlungen (Beißen, Schlagen, Treten, Kneifen) gegenüber anderen Kindern, Erwachsenen und sich selbst (Schlagen mit dem Kopf gegen die Wand) mündet. Ohne eine diesbezügliche fachärztliche Beurteilung, die nicht von der Schule veranlasst, sondern nur von den Eltern des Kindes beigebracht werden kann, lässt sich das Verhalten des Jungen nicht als Verteidigungshandlung erklären. Das liegt offensichtlich auf der Hand, wenn nach dem Vorbringen der Eltern des Antragstellers bereits das Ansprechen ihres Sohnes in der Schule von diesem als „Angriff“ empfunden wird, was bei ihm zu einem Zustand des vollständigen Kontrollverlustes führen kann.

Bei dieser Sachlage lassen sich Ermessensfehler der Konferenzentscheidung auch nicht mit der in der Antragsbegründung geäußerten Forderung nach einer Analyse und Diagnose des Verhaltens und der Aufstellung eines diesbezüglichen Hilfeplans durch die Schule begründen, zumal in der Klassenkonferenz der Klasse 2b ausdrücklich der Wunsch der Schule nach einer Zusammenarbeit mit der behandelnden Fachärztin Dr. I. geäußert worden ist. Bei einem derart auffälligen Verhalten eines Kindes, das nach übereinstimmender Auffassung der Beteiligten als „Hilferuf“ verstanden wird und angesichts seiner Heftigkeit möglicherweise Hinweise für eine kindheitsbezogene Verhaltens- und emotionale Störung bietet, ist die Schule schon fachlich nicht in der Lage, die von dem Antragsteller geforderte verbindliche Analyse und Diagnose seines Verhaltens zu erstellen.

Aufgabe der Schule ist es vielmehr, gegebenenfalls der Frage nachzugehen, mit welchen pädagogischen Mitteln der Antragsteller in Anbetracht der individuellen pädagogischen Ausgangslage von Seiten der Schule in seiner emotionalen und sozialen Entwicklung unterstützt werden kann. Diese Feststellung kann aber schon wegen der sich daraus ergebenden Rechtsfolgen (§ 4 Abs. 2 Satz 2 NSchG) nur in dem nach Maßgabe der Verordnung zur Feststellung eines Bedarfs an sonderpädagogischer Unterstützung vom 22.01.2013 (- VO-SU – GVBl. S. 23; SVBl. S. 66) durchzuführenden Verfahren getroffen werden. Im Verfahren nach der VO-SU ist zu untersuchen, ob der Schüler auf sonderpädagogische Unterstützung angewiesen ist, welcher Art und welchen Umfangs dieser Bedarf ist und mit welchen Maßnahmen dem Bedarf entsprochen werden kann, um die schulische Teilhabe des Kindes zu gewährleisten. Erst im Rahmen dieses in § 60 Abs. 1 Nr. 4 NSchG vorgesehenen Verfahrens können weiterreichende Untersuchungen und Tests durchgeführt werden (vgl. § 56 Abs. 1 NSchG), die auf der Grundlage des Förderplans der Grundschule, des zu erstellenden Fördergutachtens und nach Maßgabe der Empfehlungen der Förderkommission unter Mitwirkung der Erziehungsberechtigten den Inhalt und Umfang einer eventuellen zukünftigen sonderpädagogischen Unterstützung des Schülers bestimmen. Durch die bloße Hinzuziehung einer im Rahmen der sonderpädagogischen Grundversorgung der Schule zur Verfügung gestellten Förderschullehrkraft und die Inanspruchnahme der Unterstützungsfunktion einer Förderschule allein ist dieses nicht zu leisten.

Der Umstand, dass der Antragsteller möglicherweise im Bereich der emotionalen und sozialen Entwicklung einen Bedarf an sonderpädagogischer Unterstützung hat, steht einer Ordnungsmaßnahme nicht grundsätzlich entgegen. Dies hat die Kammer bereits vor der Einführung der inklusiven Schule in Niedersachsen zu Ordnungsmaßnahmen gegenüber Schülerinnen und Schülern mit einem festgestellten sonderpädagogischen Förderbedarf entschieden (vgl. Beschluss der Kammer vom 22.10.2002, a. a. O.) und muss erst Recht gelten, seitdem die sonderpädagogische Förderung nicht mehr Erziehungsziel ist, sondern im Schulwesen von dem Gedanken der gleichberechtigten Teilhabe Behinderter (Inklusion) abgelöst worden ist. Zu beachten ist dabei allerdings, dass sich die Schule insoweit ihrer Verpflichtung zur unverzüglichen Einleitung des Verfahrens nach § 2 VO-SU bewusst ist. Das ist vorliegend offenbar der Fall. Die Schulleiterin der Antragsgegnerin hat in einer an ihre Prozessbevollmächtigten gerichteten E-Mail vom 27. Februar 2015 erklärt, dass die Schule am 12. März 2015 im Rahmen der Klassenkonferenz einen Beschluss darüber herbeiführen werde, ob ein solches Verfahren im Fall des Antragstellers eingeleitet wird. Sie hat ferner weitere Maßnahmen ergriffen, die auch von dem Antragsteller in seiner Antragsbegründung verlangt werden, wie die Inanspruchnahme mobiler Dienste der Förderschule G. und die Hinzuziehung einer Schulpsychologin, die sich für einen Besuch der Schule am 27. Februar 2015 angekündigt hat. Die Antragsgegnerin hat ferner den Wunsch nach Gestattung einer intensiveren Zusammenarbeit mit der den Antragsteller behandelnden Fachärztin geäußert und angeregt, dass die Eltern des Antragstellers beim zuständigen Leistungsträger Hilfe in Gestalt einer Schulbegleitung beantragen.

Angesichts dieses Sachverhalts kann der Antragsteller der Antragsgegnerin nicht entgegenhalten, dass sie bisher nichts unternommen habe, um ihm zu helfen. Die Eltern des Antragstellers haben die Fachärztin Dr. I. ihrer schriftlichen Stellungnahme zur Klassenkonferenz zufolge erstmalig im Oktober 2014 im Hinblick auf die von ihnen beobachtete Wesensveränderung ihres Sohnes aufgesucht, ohne allerdings vorzutragen, dass sie der Schule den ohne nähere fachärztliche Erläuterung nicht nachvollziehbaren Zusammenhang zwischen einer festgestellten Hochbegabung und der beobachteten Wesensveränderung nachgewiesen oder die Schule mit einer Erklärung über die Entbindung von der Schweigepflicht an die Ärztin verwiesen hätten. Es kommt hinzu, dass sich die Vorkommnisse, die Anlass für die Ordnungsmaßnahme waren, nach den Feststellungen der Antragsgegnerin erst zu Beginn des Monats Dezember 2014 manifestierten. Außerdem haben die im Januar 2015 von der Fachärztin empfohlenen Maßnahmen in der Gestalt des „Ausärgerns“ und der „Stimmungsampel“ angesichts der Schilderungen der Vorfälle in der Schule die Steigerung der Aggressivität des Schülers nicht verhindert, weil er diese Möglichkeiten selbst nicht wahrgenommen hat. Das gilt nicht nur für die „Stimmungsampel“, sondern auch für das Angebot des in der Antragsbegründung hervorgehobenen Rückzugs in die „Ärger-Ecke“, dem der Schüler ausweislich der Berichte über die Vorfälle am 2. Dezember 2014, 20. Januar, 29. Januar und 6. Februar 2015 nicht nachgekommen ist.

Unter diesen Umständen spricht Überwiegendes dafür, dass die angefochtene Ordnungsmaßnahme, soweit sie sich auf den Zeitraum vom 12. Februar bis 13. März 2015 erstreckt, im Hauptsacheverfahren Bestand haben wird. Das gilt auch hinsichtlich der Länge des gesamten Unterrichtsausschlusses von fünf Wochen, der sich zwar an der oberen Grenze einer gegenüber einem Grundschüler erstmalig angeordneten Ordnungsmaßnahme bewegt, angesichts der Häufung und Massivität der Vorfälle in den ersten fünf Wochen nach den Weihnachtsferien noch als verhältnismäßig angesehen werden kann.

Dieser Beitrag wurde unter Schulrecht veröffentlicht. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.