BSG, Urteil vom 16. 4. 2002 – B 9 VG 1/01 R
Ein aus einer Inzestbeziehung geschädigt geborenes Kind hat Anspruch auf Versorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz, wenn seine Zeugung Folge einer Gewalttat i. S. des § 1 OEG war.
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Schwerin vom 27. November 2000 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Mecklenburg-Vorpommern zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Klägerin begehrt Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm dem Bundesversorgungsgesetz (BVG).
Die 1955 geborene Mutter der Klägerin wurde seit ihrem 13. Lebensjahr von ihrem Vater sexuell missbraucht. Aus dieser Inzestbeziehung ging die 1979 geborene Klägerin hervor. Alsbald nach ihrer komplikationslos verlaufenen Geburt kam es zu einem Anfallsleiden. Anlässlich ihrer Behandlung vom 19. März bis zum 30. Juni 1980 in der Kinderabteilung des Universitätskrankenhauses Rostock wurden folgende Gesundheitsstörungen diagnostiziert: sekundäre generalisierte Epilepsie, Hydrocephalus internus mäßigen Grades, Eisenmangelanämie, infantile Zerebralparese, Soor, Infekt der oberen Luftwege. Mit Bescheid vom 7. Januar 1992 stellte das Versorgungsamt Schwerin bei der Klägerin eine Blindheit beiderseits, eine geistige Behinderung mit spastischer Lähmung und ein Anfallsleiden sowie einen Grad der Behinderung (GdB) von 100 fest.
Der Beklagte lehnte es ab, der Klägerin auf ihren Antrag vom 5. Juni 1998 Beschädigtenversorgung als Gewaltopfer zu gewähren (Bescheid vom 18. Januar 1999, Widerspruchsbescheid vom 2. August 1999).
Das Sozialgericht (SG) hat von Prof. Dr. W. (W.), Chefarzt der Abteilung Kinder- und Jugendmedizin des Akademischen Lehrkrankenhauses der Universität, ein unter dem 24. August 2000 erstelltes wissenschaftliches Gutachten eingeholt. Es hat sodann mit Urteil vom 27. November 2000 die angefochtenen Bescheide aufgehoben und den Beklagten verurteilt, der Klägerin ab Antragstellung Versorgung nach § 1 OEG iVm den Bestimmungen des BVG zu gewähren. Der nach § 1 OEG erforderliche vorsätzliche, rechtswidrige tätliche Angriff sei darin zu sehen, dass die Mutter der Klägerin von deren Vater in strafbarer Weise (§ 152 Strafgesetzbuch-DDR [StGB-DDR]) zum Geschlechtsverkehr gezwungen worden sei. Der Angriff müsse sich nicht unbedingt gegen den Geschädigten selbst richten. Die Voraussetzungen des Gesetzes würden auch erfüllt, wenn die Gewalttat – wie hier – Gesundheitsstörungen bei einem Anderen hervorrufe. Nach den umfangreichen und überzeugenden Ausführungen im Gutachten des Prof. Dr. W. vom 24. August 2000 stehe fest, dass der Gesundheitsschaden bei der gewaltsam gezeugten Klägerin ursächlich auf den sexuellen Missbrauch ihrer Mutter durch deren Vater zurückzuführen sei. Der Anspruch scheitere nicht daran, dass die Klägerin erst nach dem schädigenden Ereignis zur Welt gekommen sei.
Der Beklagte hat mit Zustimmung der Klägerin die vom SG zugelassene Sprungrevision (§ 161 Sozialgerichtsgesetz [SGG]) eingelegt. Zur Begründung hat er darauf verwiesen, dass der Entschädigungsanspruch nach dem OEG stets die Schädigung einer rechtsfähigen natürlichen Person voraussetze. Daran fehle es im vorliegenden Falle. Im Übrigen habe das SG versäumt, Feststellungen über Umfang und Höhe des von der Klägerin verfolgten Anspruchs zu treffen. Weder habe es Schädigungsfolgen bezeichnet, noch die Höhe der Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) festgestellt.
Der Beklagte beantragt, das Urteil des Sozialgerichts Schwerin vom 27. November 2000 aufzuheben und die Klage abzuweisen, hilfsweise die Sache an das Sozialgericht zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt, die Sprungrevision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Der vom SG mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragte Sachverständige Prof. Dr. W. habe die gesundheitlichen Schädigungen aufgelistet und sie mit einer Gesamt-MdE um 100 bewertet. Dies habe der Beklagte im sozialgerichtlichen Verfahren nicht angezweifelt. Im Gegenteil habe er ihr einen Schwerbehindertenausweis ausgestellt, in dem der GdB ebenfalls mit 100 beziffert worden sei und zusätzlich die entsprechenden Merkzeichen für eine außergewöhnliche Gehbehinderung, Hilflosigkeit und Blindheit zuerkannt.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist iS der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das Landessozialgericht (LSG) Mecklenburg-Vorpommern begründet.
1. Die Klage ist in Form einer verbundenen Anfechtungs- und Leistungsklage iS des § 54 Abs 1 und 4 SGG zulässig. Die Klägerin hat ihr Begehren in dem von ihr vor dem SG gestellten Klagantrag allerdings nur unvollkommen zum Ausdruck gebracht, sodass der Klagantrag unter Berücksichtigung der Begründung der Auslegung bedarf. Nach seiner Fassung, an die das Gericht nach § 123 SGG nicht gebunden ist, verlangt die Klägerin zusätzlich zur Aufhebung der angefochtenen Bescheide die Bewilligung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Wenn der Antrag nicht eindeutig ist, muss im Wege der Auslegung festgestellt werden, welches das gewählte Prozessziel, also die gewählte Klageart ist. Auch für die Auslegung von Prozesshandlungen einschließlich der Klageanträge ist die – für rechtsgeschäftliche Willenserklärungen geltende – Auslegungsregel des § 133 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) entsprechend anzuwenden. Danach ist nicht an dem Wortlaut der Erklärung zu haften, sondern der wirkliche Wille zu erforschen und zu berücksichtigen, dass der sich nicht nur aus dem Wortlaut der Erklärung, sondern auch aus den sonstigen Umständen ergeben kann (BSGE 63, 93, 94 = SozR 2200 § 205 Nr 65 S 180; BSGE 68, 190, 191 = SozR 3—2500 § 95 Nr 1 S 1; BSGE 74, 77, 79 = SozR 3—4100 § 104 Nr 11 S 47; Kummer, DAngVers 1984, 346, 362; ders, Das sozialgerichtliche Verfahren, 1996 RdNr 138; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, § 123 Anm 3; Berchtold in Hennig, SGG, § 92 RdNr 21). Das SG hat – trotz der für einen Verpflichtungsantrag sprechenden Formulierung („zu verurteilen, … zu bewilligen“) – zu Recht eine mit der Anfechtungsklage verbundene Leistungsklage angenommen und in seiner stattgebenden Entscheidung den Urteilstenor entsprechend gefasst.
Zu Unrecht rügt der Beklagte, das SG hätte kein Grundurteil (§ 130 SGG) erlassen dürfen. Dieser Einwand wäre nur stichhaltig, wenn die Klägerin die Verurteilung des Beklagten auch zu Sachleistungen erstrebt hätte. Bei richtiger Auslegung hat sich ihr Begehren aber nicht auf alle Leistungen gerichtet, die ihr als Gewaltopfer zustehen könnten (vgl insoweit Senatsurteil vom 28. April 1999 – B 9 V 16/98 R – nicht veröffentlicht). Die Klage richtet sich vielmehr nur auf Beschädigtenrente, dh einen Geldleistungsanspruch.
Ebenso wenig kann mit Erfolg beanstandet werden, dass das SG die Schädigungsfolgen nicht ausdrücklich im Urteilstenor aufgeführt, sondern sich mit einer entsprechenden Feststellung in den Entscheidungsgründen begnügt hat. Die Verurteilung zu Geldleistungen nach dem OEG iVm den Bestimmungen des BVG setzt nicht zwingend voraus, dass die Versorgungsverwaltung gleichzeitig verpflichtet wird, bestimmte Gesundheitsstörungen als Schädigungsfolgen festzustellen. Außerdem ist den für die Auslegung des Urteils heranzuziehenden Entscheidungsgründen zu entnehmen, dass die Klägerin „eine gesundheitliche Schädigung in Form einer beidseitigen Blindheit und einer geistigen Behinderung mit spastischer Lähmung und Anfallsleiden erlitten hat“.
Nach den Feststellungen des SG, die mit der Sprungrevision nicht wegen Mängel des Verfahrens angegriffen werden können (§ 161 Abs 4 SGG), hat der Inzest zu den schweren Gesundheitsstörungen der Klägerin geführt. Das SG ist bei seinen Überlegungen – wie sich aus dem Beweisbeschluss vom 2. Mai 2000, dem auf diesem Beschlusse beruhenden Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. W. vom 24. August 2000 und den daraus gezogenen Schlussfolgerungen der erstinstanzlichen Richter ergibt – von der Lehre von der wesentlichen Bedingung (vgl BSGE 33, 202, 204; BSG SozR 3—5864 § 9 Nr 2), die auch im Recht der Opferentschädigung gilt (BSGE 49, 104, 105), ausgegangen und hat den Ursachenzusammenhang rechtsfehlerfrei beurteilt.
Die Rüge, im angefochtenen Urteil sei die Höhe der schädigungsbedingten MdE nicht festgestellt, geht fehl. Denn in den Entscheidungsgründen heißt es, dass die Schädigungsfolgen „einen GdB von 100“ bedingen. Die Kennzeichnung des Ausmaßes der Erwerbsminderung mit dem – im Schwerbehindertenrecht zu verwendenden – Begriff GdB statt des – für das Versorgungsrecht vorgesehenen – Begriffs Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) ist unschädlich, weil der GdB iS des § 2 Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch (SGB IX) und die (medizinische) MdE iS des nach § 1 Abs 1 OEG maßgeblichen § 30 Abs 1 des BVG einander in aller Regel entsprechen (vgl § 69 Abs 1 Satz 4 SGB IX) und Anhaltspunkte für einen Ausnahmefall nicht vorliegen.
2. Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist das OEG iVm den Bestimmungen des BVG. Die Vorschriften des OEG finden hier nach dem Einigungsvertrag (EinigVtr) vom 31. August 1990 Anl I Kap VIII Sachgebiet K Abschnitt III Nr 18 Buchst a bis g iVm dem Zustimmungsgesetz vom 23. September 1990 Anwendung (BGBl 1990 II, 885, 889). Danach gilt das OEG auch für Taten, die – wie im hier zu entscheidenden Fall – nach seinem Inkrafttreten (1976) im Beitrittsgebiet verübt worden sind. Der durch Gesetz vom 20. Dezember 1984 (BGBl I, 1723) eingeführte § 10a OEG ist nach Buchst d des EinigVtr (aaO) zu Gunsten der Klägerin anzuwenden, denn diese hat seit ihrer Geburt stets im Beitrittsgebiet gewohnt (vgl Senatsurteil in BSGE 78, 274 = SozR 3—8110 Kap VIII K III Nr 18 Nr 1). Voraussetzung für einen Anspruch der Klägerin ist nach § 10a iVm § 1 OEG allerdings, dass die Klägerin durch einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff gesundheitliche Schäden erlitten hat und infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und zudem bedürftig ist.
Bei Vorliegen dieser Anspruchsvoraussetzungen kann der Klägerin dem Grunde nach ein Anspruch auf Entschädigung nach dem OEG zustehen. Der Anspruch scheitert nicht etwa von vornherein schon daran, dass die Klägerin nicht unmittelbar geschädigt sein könnte oder daran, dass ihr bereits bei ihrer Zeugung eine Entwicklung zu einem gesundheitlich defekten Menschen vorbestimmt war.
Nach § 1 Abs 1 OEG kann die gesundheitliche Schädigung auch bei einer anderen als der angegriffenen Person eintreten. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats (vgl zuletzt Senatsurteil vom 8. August 2001 – 9 VG 1/00 R – = BSGE 88, 240 ff). Wie der Senat jedoch bereits mehrfach ausgesprochen hat (vgl zuletzt BSGE 88, 240, 242 ff mwN), wird auch im Recht der Gewaltopferentschädigung (wie im sozialen Entschädigungsrecht überhaupt) grundsätzlich nur die auf Grund unmittelbarer Schädigung, nicht aber die nur auf Grund mittelbarer Schädigung eingetretene Schadensfolge entschädigt. Allerdings wird der Begriff der „unmittelbaren Schädigung“ weit verstanden und richtet sich letztlich nach dem Schutzzweck des Gesetzes. Bei der engen vorgeburtlichen Verbundenheit zwischen Mutter und Kind und der typischen Bedeutung von Schädigungen der Mutter auch für die Gesundheit eines zukünftigen Kindes, und zwar auch des „nondum conceptus“, erscheint es daher vertretbar, von der Möglichkeit einer unmittelbaren Schädigung auch eines noch nicht gezeugten Kindes auszugehen. So hat der Senat schon in einer früheren Entscheidung (vgl den „Lues-Fall“ in BSGE 20, 41 = SozR Nr 68 zu § 1 BVG) den Entschädigungsanspruch eines luetischen Kindes anerkannt, dessen Mutter mindestens sechs Jahre vor seiner Geburt bei einer Vergewaltigung durch einen russischen Soldaten mit Lues infiziert worden war.
Die Besonderheit des Falles liegt somit weniger darin, dass die Klägerin zum Zeitpunkt des Angriffs auf ihre Mutter noch nicht existierte, sondern dass die Gewalttat zeitlich „in etwa“ mit der Zeugung zusammenfiel. Dies wirft die Frage auf: Stehen einem Kind, das gewaltsam gezeugt wird und wegen des Inzestes erheblich geschädigt geboren wird, Entschädigungsleistungen nach dem OEG zu? Der Senat bejaht dies.
Die Frage lässt sich allerdings nicht unmittelbar aus dem Gesetz beantworten. Der Wortlaut des § 1 Abs 1 Satz 1 OEG („Wer. … infolge eines. … Angriffs gegen seine oder eine andere Person“) setzt offensichtlich voraus, dass der Geschädigte im Zeitpunkt des Angriffs bereits gelebt hat. Diese Voraussetzung wird weder im Falle der Leibesfrucht (nasciturus) noch im Falle des gleichzeitig mit der Gewalttat gezeugten Kindes erfüllt. Insofern besteht eine Regelungslücke (zur gleichen Problematik bzgl des Wortlauts des § 1 BVG s BSGE 18, 55, 59 = SozR Nr 64 zu § 1 BVG = NJW 1963, 1078 und BSGE 20, 41, 42 = SozR Nr 68 zu § 1 BVG = NJW 1964, 470). Der Senat ist aber befugt, die Lücke im Wege der Rechtsfortbildung zu schließen.
Der Richter ist zur Ausfüllung einer Gesetzeslücke allerdings nur berufen, wo das Gesetz mit Absicht schweigt, weil es die Regelung der Rechtsprechung überlassen wollte oder das Schweigen auf einem Versehen oder darauf beruht, dass sich der nicht geregelte Tatbestand erst nach Erlass des Gesetzes durch eine Veränderung der Lebensverhältnisse ergeben hat (BSGE 39, 143, 146 = SozR 2200 § 1251 Nr 11 S 34; BSGE 58, 110, 114 f = SozR 5755 Art 2 § 1 Nr 6 S 21; BSGE 60, 176, 178 = SozR 2600 § 57 Nr 3 S 6 und BSGE 77, 102, 104 = SozR 3—2500 § 38 Nr 1 S 3).
Hier handelt es sich um eine planwidrige Gesetzeslücke. Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit nicht erkannt, dass auch ein gleichzeitig mit oder nach der Gewalttat gezeugtes Kind geschädigt werden kann. Für diese Annahme sprechen die Gesetzesmaterialien (vgl BT-Drucks 7/2506 S 7 ff). Dort wird weder die Leibesfrucht (nasciturus) noch das noch nicht gezeugte Kind (nondum conceptus) erwähnt. Das Ziel des Gesetzes, Opfer von Gewalttaten, die der Staat nicht verhindern konnte oder verhindert hat, zu entschädigen (vgl dazu BSGE 49, 104, 105 = SozR 3800 § 2 Nr 1 S 2), richtet sich auch auf Personen, die zum Zeitpunkt der Gewalttat noch nicht geboren sind, aber unter den gesundheitlichen Folgen der Gewalttat zu leiden haben. Es spricht nichts dafür, dass der Gesetzgeber, wenn er an diese Betroffenen (Geschädigten) gedacht hätte, sie bewusst von der Entschädigungsregelung ausgenommen hätte.
Die Gesetzeslücke lässt sich durch die analoge Anwendung des § 1 OEG auf den von dieser Vorschrift nicht erfassten Fall eines durch Gewalttat (hier durch gewaltsamen Inzest) gezeugten Kindes, das wegen der Gewalttat mit Gesundheitsstörungen geboren wird, schließen. Das ist geboten, weil der nicht geregelte Fall nach der Regelungsabsicht des Gesetzgebers wegen der Gleichheit der zu Grunde liegenden Interessenlage hätte einbezogen werden müssen. Dies beruht letztlich auf der Forderung normativer Gerechtigkeit, Gleichartiges gleich zu behandeln (BSGE 60, 176, 178 = SozR 2600 § 57 Nr 3 S 6). Der von § 1 OEG nicht geregelte Fall des durch gewaltsamen Inzest gezeugten Kindes ist mit den vom Gesetz erfassten Fällen in zwei wesentlichen Punkten gleich: Es richtet sich ein rechtswidriger vorsätzlicher tätlicher Angriff gegen eine Person und es wird dadurch ein Gesundheitsschaden verursacht. Der Unterschied besteht im Wesentlichen darin, dass sich die Gewalttat auf einen gleichzeitig mit ihr gezeugten oder wenig später werdenden Menschen auswirkt, in dem sie ihn mit Gesundheitsschäden entstehen lässt. Dieser Unterschied hat aber im Vergleich zu den von § 1 OEG erfassten Fällen und angesichts des Zwecks der gesetzlichen Regelung untergeordnete Bedeutung und rechtfertigt gegenüber den gesund gezeugten, aber vorgeburtlich geschädigten Opfern keine unterschiedliche Behandlung. Es muss daher von einer Gleichheit der zu Grunde liegenden Interessenlage ausgegangen werden, sodass die Gleichbehandlung des ungeregelten Falles mit den von § 1 OEG erfassten Fällen geboten ist.
In seiner Auffassung sieht der Senat sich durch die bisherige Rechtsprechung zu § 1 BVG bestärkt. So hat das BSG durch Rechtsfortbildung die Leibesfrucht in den Versorgungsschutz einbezogen (BSGE 18, 55, 59 ff) und in der bereits oben zitierten Entscheidung (BSGE 20, 41, 43 f – Lues-Fall) einem erst nach dem schädigenden Ereignis, von dem die Mutter betroffen war, gezeugten Kind Versorgungsleistungen zugesprochen. Zwar verkennt der Senat nicht, dass es sich jeweils um Kinder gehandelt hat, die erst im Laufe ihrer Menschwerdung im Mutterleib geschädigt worden sind, also jedenfalls vorher für eine mehr oder minder kurze Zeit als Leibesfrucht ungeschädigt gewesen sind. Das ist beim gewaltsam gezeugten Inzestkind, das mit ursprünglich in ihm angelegten Gesundheitsschäden auf die Welt kommt, anders. Wegen der ungünstigen genetischen Bedingungen ist seine Entwicklung von vornherein gestört. Es kann für keinen Augenblick vom Beginn der Verschmelzung von Eizelle und Sperma an ungeschädigt gedacht werden. Aber dieser Unterschied zu den Fällen der Schädigung einer – zunächst gesunden – Leibesfrucht durch Ansteckung im Mutterleib oder durch gewaltsame Einwirkung von außen ist für die Frage der analogen Anwendung des § 1 OEG zu vernachlässigen. Er hat nicht das Gewicht, dass der Senat deswegen von der Lückenfüllung absehen müsste. Insofern ist auf das Urteil des 2. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 20. Dezember 1952 – II ZR 141/51 – (BGHZ 8, 243, 246 ff = NJW 1953, 417) zu verweisen. In dieser Entscheidung wird eingehend dargelegt, dass der zivilrechtliche Schadensersatzanspruch aus § 823 Abs 1 BGB nicht davon abhängig gemacht werden könne, dass der Anspruchsteller jemals ungeschädigt gewesen sei. Auch dann sei der Anspruch zu bejahen, wenn die Schädigung sich schon bei der Entstehung des neuen Lebens ausgewirkt habe. Dem schließt sich der Senat für den Entschädigungsanspruch nach dem OEG an.
Allerdings betraf die im 8. Band (aaO) veröffentlichte Entscheidung des BGH einen Fall, in dem bei Unterbleiben der (gegen die Mutter gerichteten) deliktischen Handlung – vermutlich – ein gesundes Kind gezeugt und geboren worden wäre. Hier dagegen lässt sich ggf die Gewalttat, auf welche die gesundheitlichen Defekte der Klägerin zurückgehen, nicht hinwegdenken, ohne dass die Klägerin nicht etwa als gesund, sondern als nicht vorhanden gedacht werden müsste. Dieser Fall ist in der vorzitierten Entscheidung des BGH (BGHZ 8, 243 – Lues-Fall) ausdrücklich angesprochen und offen gelassen worden (BGHZ aaO 248 ff, insbesondere 249). In einer späteren Entscheidung (BGHZ 86, 240 – Röteln-Fall) hatte der BGH einen Fall zu entscheiden, in dem ein Arzt die Erkrankung der Mutter an Röteln während der (gewollten) Schwangerschaft verkannt hatte und aus diesem Grund die angezeigte Schwangerschaftsunterbrechung unterblieben war. Der BGH hat dabei einen eigenen Anspruch des Kindes gegen den Arzt verneint, allerdings zugleich – unter ausdrücklichem Zitat des Urteils BGHZ 8, 243 – gleichwohl eine Haftung für ein haftungsbegründendes Verhalten, das vor der Erzeugung des „geschädigten“ Kindes lag, weiterhin grundsätzlich für denkbar erklärt.
Somit geht der Senat, wenn er einem Kind, dessen anlagebedingte Gesundheitsstörung („wrongful life“) auf ein vorwerfbares Verhalten eines Dritten zurückgeht, grundsätzlich einen Anspruch auf Entschädigung einräumt, insoweit über die Rechtsprechung des BGH zum bürgerlich-rechtlichen Schadensersatzanspruch hinaus. Er sieht sich aber weder durch die zitierte Entscheidung des BGH im 86. Band (aaO), die (im Gegensatz zu der Entscheidung des BGH im 8. Band aaO) keine ungewollte Schwangerschaft betrifft, noch durch die im Schrifttum gegen die zivilrechtliche Entschädigung der „wrongful life“ -Kinder (vgl dazu zuletzt Winter JZ 2002, 330, 333 ff, 336) geäußerten Bedenken gehindert, auch dem durch eine Gewalttat gezeugten Kind einen sozialrechtlichen Entschädigungsanspruch wegen gesundheitlicher Defekte zuzuerkennen, die wesentlich ursächlich auf die Gewalttat zurückgehen. Ausschlaggebend ist für ihn dabei nicht der Umstand, dass das gewaltsam gezeugte Kind ohne die Gewalttat gar nicht vorhanden wäre, sondern die gesundheitliche und soziale Belastung des Kindes durch die Folgen der Gewalttat. Es wäre zynisch, dem infolge einer Gewalttat schutzbedürftigen Kind den besonderen für Gewaltopfer vorgesehenen sozialen Schutz mit der Begründung vorzuenthalten, es solle dankbar sein, dass es überhaupt lebe (vgl auch die für die ähnliche Problematik im zivilistischen Deliktsrecht angestellten Überlegungen von Hager bei Staudinger, 13. Aufl, RdNr B 43 und Soergel-Zeuner 12. Aufl, RdZiff 22, jeweils zu § 823 BGB). Der Senat nimmt insoweit eine mögliche Diskrepanz zwischen einem Anspruch nach dem OEG und dem Zivilrecht (vgl dazu BSGE 88, 240, 245) in Kauf. Es ist außerdem, abgesehen von den strukturellen Unterschieden zwischen dem zivilrechtlichen Deliktsrecht und dem sozialen Entschädigungsrecht, zu beachten, dass im vorliegenden Fall die Klägerin dem Leistungsverpflichteten – anders als bei den von den (auch ausländischen) Zivilgerichten entschiedenen Fällen – nicht die Zulassung ihrer Existenz, zugespitzt ausgedrückt: ihr Vorhandensein (durch Unterlassen einer Warnung wegen genetischer Risiken oder durch Unterlassen eines angezeigten Schwangerschaftsabbruches), vorwirft, sondern die Nichtverhinderung einer Gewalttat, die ursächlich für ihre gesundheitlichen Defekte gewesen ist.
Dass der 2. Senat des BSG in seinem Urteil vom 30. April 1985 – 2 RU 44/84 – (BSGE 58, 83, 85 f = SozR 2200 § 555a Nr 2, S 5 f = NJW 1986, 1569; BVerfGE 75, 348, 357 ff = SozR 2200 § 555a Nr 3, S 11 ff) die analoge Anwendung des § 555a Reichsversicherungsordnung (RVO) auf ein Kind abgelehnt hat, das als Leibesfrucht durch die Folgen einer von seiner Mutter vor seiner Zeugung erlittenen Berufskrankheit geschädigt worden ist, steht der Auffassung des erkennenden Senats zur Füllung der Gesetzeslücke in § 1 Abs 1 Satz 1 OEG nicht entgegen. Im Gegensatz zu den Gesetzesmaterialien zum OEG ergibt sich aus der amtlichen Begründung zu § 555a RVO (BT Drucks 8/4022 S 93), dass der Gesetzgeber (nur) die als Leibesfrucht durch einen während der Schwangerschaft eingetretenen Arbeitsunfall (einschließlich einer Berufskrankheit) ihrer Mutter geschädigten Personen in den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung einbeziehen wollte. Wenn aber nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers eine weiter gehende Regelung nicht beabsichtigt war, fehlt die rechtliche Möglichkeit für eine Rechtsfortbildung. Denn die Rechtsprechung ist an Gesetz und Recht durch Art 20 Abs 3 Grundgesetz (GG) gebunden. Der Richter darf sich nicht über das gesetzte Recht hinwegsetzen, weil es seinem Rechtsempfinden nicht entspricht. Er ist nicht befugt, in die Kompetenz des Gesetzgebers einzugreifen (BSGE 58, 83, 85). Anders ausgedrückt: Eine Rechtsfortbildung kommt nur in Betracht, wenn sich – wie hier – ein gegenteiliger Wille des Gesetzgebers nicht feststellen lässt.
Schließlich setzt sich der Senat auch nicht in Widerspruch zu seinem Urteil vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 7/93 – (BSGE 77, 11 ff = SozR 3—3800 § 1 Nr 7 S 26 ff). Er hat zwar dort ausgeführt, dass das OEG keine Anspruchsgrundlage bezüglich der Unterhaltspflichten enthält, die der Mutter erwachsen, die ein aus einer Straftat hervorgegangenes Kind zur Welt bringt, und dass für eine Rechtsfortbildung insoweit kein Raum besteht. Diese Konstellation ist aber nicht mit dem zu entscheidenden Sachverhalt vergleichbar. Die Klägerin begehrt wegen der bei ihr selbst bestehenden Gesundheitsschäden, die auf dem Inzest zwischen ihrer Mutter und deren Vater beruhen, Entschädigungsleistungen. Selbst wenn diese Leistungen nach § 1 Abs 1 Satz 1 OEG auch „wegen der … wirtschaftlichen Folgen“, zB einer schädigungsbedingten Erwerbsminderung, gewährt werden, ist zu unterscheiden, ob sie der Deckung des Unterhaltsbedarfs des Geschädigten oder – wie in dem am 18. Oktober 1995 entschiedenen Fall – der Erfüllung von Unterhaltspflichten der Mutter gegenüber einem aus einer Straftat hervorgegangenen Kind dienen sollen.
Es ist nicht ausgeschlossen, steht aber noch nicht fest, dass die Klägerin Opfer eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs iS des § 1 OEG geworden ist. Die insoweit getroffenen Feststellungen reichen für eine abschließende Beantwortung dieser Frage nicht aus. Nach den Feststellungen des SG hat der Vater der Klägerin deren Mutter gegen ihren Willen seit Jahren sexuell missbraucht. Insoweit kann es sich zwar bei dem Geschlechtsverkehr, der zur Zeugung der Klägerin führte, um einen vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriff iS des § 1 OEG auf die Geschlechtsehre und geschlechtliche Unverletzlichkeit der Mutter der Klägerin handeln, denknotwendig ist dies aber selbst dann nicht, wenn Ausgangspunkt der inzestuösen Beziehung zwischen der Mutter der Klägerin und ihrem Vater bei deren (zeitlichem) Beginn eine Gewalttat oder Serie von Gewalttaten war. Um beurteilen zu können, ob der Vater die nach dem damaligen Recht der DDR und nach bundesdeutschen Vorschriften strafbare (§ 152 StGB-DDR; § 173 StGB) langjährige Inzestbeziehung auch noch zum maßgeblichen Zeitpunkt der Zeugung der Klägerin erzwungen hat, also die Voraussetzungen des § 1 OEG erfüllt sind, hätte es konkreter Feststellungen zum Verhalten des Vaters gegenüber der Mutter der Klägerin bedurft. Die Feststellung im angefochtenen Urteil, „dass die sexuelle Beziehung gegen den Willen der Mutter der Klägerin bestanden hat“, genügt nicht, um revisionsgerichtlich prüfen zu können, ob das SG die Vorschrift des § 1 OEG rechtsfehlerfrei angewendet hat. Die insoweit noch fehlenden Feststellungen wird das LSG im Berufungsverfahren nachholen müssen.
Im Übrigen wird das LSG auch noch festzustellen haben, ob die Klägerin iS von § 10a Abs 1 Nr 2 und Abs 2 OEG bedürftig ist. Die Kostenentscheidung – auch für das Revisionsverfahren – bleibt dem LSG vorbehalten.