Zu den Anforderungen an die Pausenaufsicht in einer Förderschule

LG Wuppertal, Urteil vom 29. April 2021 – 9 S 22/21

Zu den Anforderungen an die Pausenaufsicht in einer Förderschule

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Amtsgerichts Mettmann,22 C 96/20, vom 16.12.2020 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.Dieses Urteil und das angefochtene Urteil sind ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Gründe
I.

1
Der 2006 geborene Kläger ist aufgrund einer frühkindlichen Hirnschädigung zu 100 % schwerbehindert. Träger der von ihm besuchten privaten Förderschule ist die Beklagte.Während der Pause am 13.03.2019 befand sich der Kläger in der hinteren rechten Ecke des Schulhofes und sah anderen Kindern beim Fußballspielen auf dem angrenzenden, umzäunten Bolzplatz zu. Der ebenfalls behinderte Mitschüler H näherte sich ihm völlig ruhig und stieß den Kläger dann von hinten gegen den den Schulhof begrenzenden Zaun. Der Kläger erlitt dadurch eine blutende Gesichtsverletzung. Die Krankenschwester der Schule stellte fest, dass ein Schneidezahn fehlte. Nachdem sich das Zahnfleisch entzündet hatte, wurde der Kläger vom 21.03.2019 bis zum 23.03.2019 stationär behandelt. Aufgrund seiner Behinderung öffnet der Kläger bei zahnärztlichen Untersuchungen nicht freiwillig den Mund, schlägt, schreit und beißt. Ob der Schneidezahn durch ein Implantat ersetzt werden kann, ist gegenwärtig unklar.Der Kläger, der ein Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 4.000 EUR für angemessen hält, hat beantragt festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet sei, ihm alle materiellen und immateriellen Schäden aus dem streitgegenständlichen Vorfall zu erstatten, soweit nicht ein Forderungsübergang auf einen Sozialleistungsträger erfolgt sei. Er hat behauptet, die Aufsicht sei unzureichend gewesen. Der Täter sei als gewalttätig bekannt gewesen. Die Beklagte treffe ein Verschulden aufgrund der Tatsache, dass sie rechtswidrig eine ISB-Kraft (Eingliederungshilfe nach SGB XII) abgelehnt habe.

2
Das Amtsgericht hat die Klage als unbegründet abgewiesen.

3
Der Kläger habe nicht bewiesen, dass der Beklagten ein Organisationsverschulden zur Last gelegt werden könne. Nach den Aussagen der Zeugen hätten sich durchgängig fünf Aufsichtspersonen auf dem Schulhof befunden. Das Gericht könne auch nicht feststellen, dass H in der Pause besonders hätte beaufsichtigt werden müssten. Im Übrigen hätte eine ISB-Kraft, die auch nicht die Aufgabe habe, ein Kind zu schützen, den Vorfall ebenfalls nicht verhindern können. Die Zeugin N habe bekundet, es sei bei ihm so, dass man als Erwachsener daneben stehen könne und es käme trotzdem noch zu Vorfällen, weil man gar nicht so schnell reagieren könne. Es habe aber keinen Grund dafür gegeben anzunehmen, dass es im Rahmen der Pause zu Gewalttätigkeiten seinerseits kommen würde. Ohne konkreten Anlass von der Schule zu verlangen, dass sie die Annäherung eines Kindes an ein anderes Kind verhindere, überspanne die Anforderungen an die Schule. Der Betreuungsschlüssel habe max. 1:10 betragen.Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger sein erstinstanzliches Begehren weiter. Er rügt eine fehlerhafte Beweiswürdigung. Das Amtsgericht gehe unzutreffend davon aus, dass die Beklagte weder ein Aufsichts- noch ein Organisationsverschulden treffe. Da ein Aufsichtsplan – wer, wann, wo und wie lange Aufsicht zu führen habe – fehle, liege ein Organisationsverschulden vor. Ein weiterer Vorwurf liege darin begründet, dass H trotz der bekannten Aggressivität unbegleitet die Pause auf dem Schulhof habe verbringen dürfen, während dem Kläger eine bereits bewilligte und zur Verfügung stehende ISB-Kraft verwehrt worden sei. Der Zeuge K habe sich abgewandt, als H sich dem Kläger, dem bekanntermaßen der Reflex fehle, sich bei einem Sturz mit den Händen abzufangen, genähert habe. Die Zeugin N habe nach eigener Bekundung nicht mehr gewusst, wie sie ihre Schüler schützen sollte, nachdem die Betreuung des H. abgesprungen sei. Bezeichnenderweise habe H nur fünf Tage nach dem Vorfall wieder eine eigene ISB-Kraft bekommen. Dass eine ISB-Kraft den Kläger in der Pause keinesfalls begleitet hätte, sei eindeutig falsch. Unklar sei, worauf das Amtsgericht seine Schlussfolgerung stützte, auch eine weitere ISB-Kraft oder Aufsicht hätte den Vorfall nicht verhindern können.Im Übrigen wird von der Darstellung eines Tatbestandes gemäß §§ 540 II, 313a, 544 II Nr. 1 ZPO abgesehen.

II.

4
Die zulässige, insbesondere form- und fristgerecht eingelegte und begründete Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg. Die angefochtene Entscheidung beruht weder auf einer Rechtsverletzung, noch rechtfertigen die nach § 529 ZPO zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung; § 513 ZPO.1.Bereits die Zulässigkeit der Klage ist nicht bedenkenfrei.Eine Feststellungsklage ist nur dann zulässig, wenn ein rechtliches Interesse daran besteht, dass das Rechtsverhältnis durch richterliche Entscheidung alsbald festgestellt wird (§ 256 I ZPO). Das ist hier hinsichtlich der materiellen Schäden zweifelhaft, weil solche bis jetzt vollständig von der öffentlichen Hand getragen worden sind. Hinsichtlich des Schmerzensgeldes ist zu beachten, dass bei dessen Bemessung auch die absehbare künftige Entwicklung des Schadensbildes zu berücksichtigen ist. Üblicherweise kann die Feststellung der Ersatzpflicht für weitere immaterielle Schäden nur dann verlangt werden, wenn die Möglichkeit besteht, dass künftig weitere, bisher noch nicht erkannte und nicht voraussehbare Leiden auftreten (Grüneberg in: Palandt, BGB, 80. Aufl., § 253, Rn. 25).Das bedarf aber keiner näheren Aufklärung und abschließenden Entscheidung. Das Vorliegen des Feststellungsinteresses ist nämlich nur für eine stattgebende Entscheidung erforderlich, nicht aber für eine klageabweisende Entscheidung, wie hier (vergleiche Greger in: Zöller, ZPO, 33. Aufl., § 256, Rn. 7).2.In der Sache hat die Klage jedenfalls keinen Erfolg.

a)

5
Dahinstehen kann dabei, ob eine Haftung der Beklagten aus § 823 I BGB oder in entsprechender Anwendung des Art. 34 GG aus § 839 BGB in Betracht gekommen wäre. Letzteres wäre der Fall, wenn die Beklagte als kirchliche Anstellungskörperschaft für schädigendes Handeln in Ausübung eines öffentlichen Amtes im Sinne von Art. 34 GG in Anspruch genommen worden wäre. Sämtliche Anspruchsgrundlagen würden jedenfalls eine Pflichtverletzung der Beklagten voraussetzen, die schuldhaft und schadensursächlich gewesen wäre.

b)

6
Das Amtsgericht hat nach einer sich über fast 3 Stunden und 20 Protokollseiten erstreckenden Vernehmung von Zeugen nicht die Überzeugung zu gewinnen vermocht, dass der Beklagten vorliegend ein Organisationsverschulden oder eine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht nachgewiesen werden konnte. Alle für die Pausenaufsicht eingeteilten Erwachsenen hätten die ihnen aufgetragene Aufsicht wahrgenommen. Es habe auch nicht festgestellt werden können, dass Hin der Pause hätte besonders beaufsichtigt werden müssen. Weitere Pausenaufsichten oder eine ISB-Kraft hätten den Vorfall nicht verhindern können. Die Behauptung des Vaters des Klägers, nicht H, sondern ein größerer Junge hätte die Verletzungen verursacht, sei durch die Beweisaufnahme widerlegt worden. Was den Aspekt der nach dem Vortrag des Klägers von der Beklagten abgelehnten ISB-Kraft für ihn anbelange, ergebe sich aus daraus kein Organisationsverschulden. Aufgabe einer solchen Kraft wäre es nicht, den Kläger zu schützen. Zudem wäre auch einer solchen Kraft eine Pause zuzubilligen. Davon abgesehen hätte sie den Vorfall auch nicht verhindern können.Diese (Nicht-) Feststellungen sind auch für das Berufungsverfahren maßgebend.Das Berufungsgericht ist an die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen gebunden, soweit diese – wie hier – rechtsfehlerfrei erfasst sind und nicht nach § 529 I Nr. 1 ZPO konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinne ist jeder objektivierbare rechtliche und tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte wollte der Gesetzgeber ausschließen (LG Saarbrücken, 13 S 181/08, bei juris ). Konkrete Anhaltspunkte, die solche Zweifel begründen und eine erneute Feststellung gebieten könnten, liegen nicht vor. In ihrer Beweiswürdigung hat sich die Amtsrichterin vielmehr entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt, ohne gegen Denk- oder Erfahrungssätze zu verstoßen.Die Berufungsbegründung gibt lediglich zu folgenden ergänzenden Ausführungen Veranlassung.

(1)

7
Das Maß der gebotenen Aufsicht bestimmt sich nach Alter, Eigenart und Charakter der Kinder, nach der Vorhersehbarkeit des schädigenden Verhaltens sowie danach, was den Aufsichtspflichtigen in ihrem jeweiligen Verhalten zugemutet werden kann. Entscheidend ist letztlich, was ein verständiger Aufsichtspflichtiger nach vernünftigen Anforderungen im konkreten Fall unternehmen muss, um Schädigungen Dritter durch das Kind zu verhindern (OLG Frankfurt, Urteil vom 18. Januar 2010 – 1 U 185/08 -, Rn. 8, juris; OLG Düsseldorf, NJW-RR 1999, 1620). Es ist pädagogisch nicht sinnvoll, jedes Kind auf Schritt und Tritt zu überwachen. Für die Frage einer Aufsichtspflichtverletzung kommt es deshalb darauf an, was der Schule je nach der Größe des Schulgeländes, der Zahl und des Alters der Schüler sowie weiterer Umstände an Aufsichtsmaßnahmen zumutbar war (Gesine Walz, Rechtsprechungsübersicht zu Fragen der Aufsicht und Haftung in der Schule, S. 6).

(2)

8
Diese Rechtsgrundsätze zugrunde gelegt ergibt sich auch unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles nicht, dass der Beklagten Versäumnisse bei der Pausenaufsicht nachgewiesen worden wären.Ob die Beklagte – zumal pflichtwidrig – keinen Aufsichtsplan aufgestellt hatte, kann dahinstehen. Entscheidend ist, dass die tatsächliche Ausführung der Pausenaufsicht nicht nachgewiesenermaßen unzureichend war.Angesichts der überschaubaren Größe des Pausenhofes und der relativ geringen Anzahl von Schülern war die Besetzung mit zwei Aufsichtskräften an definierten Gefahrenpunkten und drei weiteren den Schulhof bestreifenden Kräften angemessen. Ernsthafte Anhaltspunkte dafür, dass diese es an der gebotenen Aufmerksamkeit haben fehlen lassen, haben sich nicht ergeben.Die Kammer teilt die Auffassung des Klägers nicht, H hätte nicht unbegleitet den Schulhof besuchen dürfen. Dies gilt unbeschadet des Umstandes, dass der gesetzliche Vertreter des Klägers in der mündlichen Verhandlung behauptet hatte, nicht H , sondern ein älterer Schüler hätte die Tat begangen. Denn das Amtsgericht hat es als unstreitig im Tatbestand festgestellt, dass H der Täter gewesen ist. Davon wäre ansonsten nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auch auszugehen. Jedenfalls war der zur Tatzeit etwa sechs oder sieben Jahre alte, schmächtige H zwar als unberechenbar aggressives Kind bekannt. Dies bezog sich jedoch nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ausdrücklich nicht auf Pausen, die das Kind auf dem Schulhof verbrachte. Davon abgesehen hat die Zeugin H auf die Frage, ob H als hochgradig aggressiv bekannt gewesen sei, anschaulich bekundet, bei ihnen in der Schule seien 30 % der Kinder so. Es sei keiner ohne Grund bei ihnen auf dieser Schule. Sie habe dem Kläger gekündigt, weil er sie immer gekniffen habe. Ihr Arm sei ganz voll Blut und blauer Flecken gewesen. Auch habe er sie gekratzt. Mithin lässt sich nicht feststellen, dass ausgerechnet auf H im Hinblick auf impulsive Gewaltausbrüche zu achten gewesen wäre, was vom Kläger zu beweisen gewesen wäre (vgl. Walz, a.a.O., S. 8).Schon von daher ist es unerheblich, dass der Zeuge K den Moment der eigentlichen Tat nicht beobachtet hat, weil er abgelenkt worden war. Denn als er sah, dass sich H dem Kläger näherte, machte jener einen unauffälligen Eindruck und seine Unberechenbarkeit hatte sich bis dahin auf dem Schulhof nicht in Tätlichkeiten von Belang geäußert.

(3)

9
Hinsichtlich des von dem Kläger monierten Fehlens einer ISB-Kraft für ihn wird auf die zutreffenden Ausführungen des Amtsgerichts im angefochtenen Urteil verwiesen. Eine Schulbegleitung (§ 53 IV SGB-XII a.F. bzw. § 90 SGB-IX) muss erforderlich und geeignet sein, der Schülerin bzw. dem Schüler den Schulbesuch zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Sie darf bzw. soll sie ggf. lebenspraktische Hilfestellungen und einfache pflegerische Tätigkeiten übernehmen. Eine ISB-Kraft hat dagegen nicht die Funktion eines Leibwächters. Abgesehen davon hat sich H nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme nie von einer aggressiven Handlung deshalb abhalten lassen, weil er sich in Gegenwart von Erwachsenen befand.III.

10
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 92 und 97 ZPO einerseits und §§ 708 Nr. 10, 711 und 713 ZPO andererseits.Streitwert für das Berufungsverfahren: Bis 2.000 EUR (§§ 43 I, 48 I GKG, 3 ZPO).Angesichts der eingetretenen Verletzungen und auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass ein vollständiger Behandlungsabschluss bislang nicht erfolgen konnte, ist ein 2.500 EUR übersteigendes Schmerzensgeld fernliegend (vergleiche LG Essen, 2 O 2/86; juris). Abzustellen ist bei einem Feststellungsantrag hinsichtlich der Ersatzpflicht immaterieller Schäden anders als bei einem unbezifferten Zahlungsantrag nicht auf die Vorstellungen des Klägers, sondern auf die tatsächlichen Umstände an. D. h., maßgeblich ist, welches Risiko für den Eintritt welcher Schäden droht (vergleiche OLG Düsseldorf, Beschluss vom 19. Januar 1996 – 22 W 48/95 -, Rn. 2 – 4, juris; BGH, Beschluss vom 06. Juni 2018 – 2 StR 337/14 -, Rn. 7, juris).Anlass, die Revision zuzulassen (§ 543 I Nr. 1, II ZPO), bestand nicht. Die Sache hat weder grundsätzliche Bedeutung, noch erfordern Belange der Rechtsfortbildung oder der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs.

11
Eine grundsätzliche Bedeutung ist nämlich nur dann zu bejahen, wenn die Entscheidung der Sache von einer klärungsbedürftigen Rechtsfrage abhängt, die über den konkreten Rechtsstreit hinaus in Rechtsprechung und Rechtslehre oder den beteiligten Verkehrskreisen umstritten ist (BGH, IV ZR 543/15, bei juris). Anlass zur Fortbildung des Rechts durch Entwicklung höchstrichterlicher Leitsätze im Sinne von § 543 II 1 Nr. 2, 1. Alt. ZPO besteht nur dann, wenn es für die rechtliche Beurteilung typischer oder verallgemeinerungsfähiger Lebenssachverhalte an einer richtungweisenden Orientierungshilfe ganz oder teilweise fehlt (BGH, V ZR 291/02, bei juris).

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