LG Saarbrücken, Urteil vom 21.10.2011 – 13 S 116/11
Der Standstreifen ist zwar Teil der Autobahn, gehört aber nicht zur Fahrbahn und stellt deshalb auch keine Fahrspur i.S.d. § 7 StVO dar. Es ist daher naheliegend, das Einfahren von der Standspur als Einfahren in die Fahrbahn aus anderen Straßenteilen i.S.d. § 10 Satz 1 StVO anzusehen mit der Folge, dass den Einfahrenden ein Höchstmaß an Sorgfalt beim Einfahren in den fließenden Verkehr trifft (Rn. 9).
Tenor
1. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Amtsgerichts Saarlouis vom 27.5.2011 – Az. 25 C 890/10 (12) – wird auf seine Kosten zurückgewiesen.
2. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
3. Die Revision wird nicht zugelassen.
Gründe
I.
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Der Kläger macht gegen die Beklagten Schadensersatzansprüche aus einem Verkehrsunfall geltend, der sich am 7.10.2009 auf der Autobahn BAB 8 an der Abfahrt … in Fahrtrichtung … ereignet hat. Hierbei kollidierte das von dem Kläger geführte Wohnmobil (…) beim Wiedereinscheren von der Ausfahrspur mit dem vom Erstbeklagten auf der rechten Fahrspur geführten Sattelschlepper (…), der bei der Zweitbeklagten haftpflichtversichert ist. Der Kläger hat für die Beseitigung des an seinem Fahrzeug eingetretenen Schadens seine Vollkaskoversicherung in Anspruch genommen. Mit der Klage beansprucht er die hierbei angefallene Selbstbeteiligung von 500,- € sowie auf der Grundlage einer Haftungsquote von 50% die Hälfte seines nicht bevorrechtigten Schadens in Gestalt von 1.093,- € Nutzungsentschädigung für 44 Tage sowie einer Unkostenpauschale von 30,- €.
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Der Kläger hat vorgetragen, die Autobahn in Fahrtrichtung … sei ab der Abfahrt … bis zur Abfahrt … nur stockend passierbar gewesen. In dem Stop-and-go-Verkehr sei vor ihm der LKW des Erstbeklagten gefahren. Um den Stau zu umfahren, habe er sich entschlossen, an der Abfahrt … abzufahren und sei daher etwa 500 Meter vor der Ausfahrt auf den Standstreifen ausgewichen. Er sei hier hinter einem Kleintransporter in Richtung Ausfahrt gefahren, der jedoch in Höhe der Ausfahrt plötzlich wieder nach links auf die rechte Fahrspur der Autobahn gefahren sei. Der Kläger habe sodann bemerkt, dass die Abfahrt in Richtung … gesperrt gewesen sei und sei deshalb unter Setzen des linken Fahrtrichtungsanzeigers ebenfalls zurück auf die rechte Fahrspur in eine dortige Lücke gefahren. Er sei hier in Schrägstellung zum Halten gekommen, so dass bereits 2/3 des Fahrzeuges auf der rechten Spur gestanden habe. Obwohl alle Fahrzeuge sehr langsam gefahren wären, um den Fahrzeugen auf der Standspur das Wiedereinfädeln zu ermöglichen, sei der LKW des Erstbeklagten viel zu schnell mit Blinken und Hupen von hinten heran- und in den hinteren Teil seines stehendes Fahrzeug hinein gefahren.
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Die Beklagten sind dem entgegengetreten und haben behauptet, kurz vor der Ausfahrt … habe der Verkehr auf der rechten Fahrspur wieder zu rollen begonnen, weil sich Fahrzeuge auf die linke Fahrspur eingeordnet hätten. Die Abfahrt … sei frei und nicht gesperrt gewesen. Der Erstbeklagte sei ebenfalls wieder ins Rollen gekommen und sei mit ca. 20-30 km/h gefahren, als das Wohnmobil des Klägers plötzlich vom Standstreifen aus auf die rechte Spur gefahren sei. Weil der LKW mit 40 t Gesamtgewicht beladen gewesen sei, habe er nicht mehr so kurzfristig abbremsen können und sei daher in Höhe des Führerhauses des noch fahrenden Wohnmobils mit diesem kollidiert.
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Das Erstgericht hat nach Anhörung der Unfallbeteiligten sowie der Zeugin … sowie nach Einholung einer vorläufigen sachverständigen Stellungnahme des … die Klage abgewiesen mit der Begründung, für ein Verschulden des Klägers spreche ein Anscheinsbeweis, weil die Kollision in Zusammenhang mit einem Fahrspurwechsel des Klägers stattgefunden habe. Diesen Anscheinsbeweis habe er nicht zu erschüttern vermocht, zumal schon nicht sicher festzustellen sei, ob sein Fahrzeug im Zeitpunkt der Kollision gestanden habe oder nicht. Sein Beweisangebot zur Einholung eines Unfallrekonstruktionsgutachtens habe der Kläger nach Eingang der vorläufigen Stellungnahme des Gutachters nicht mehr aufrecht erhalten, so dass ihm der Nachweis der ernsthaften Möglichkeit eines atypischen Unfallgeschehens nicht gelungen sei.
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Mit seiner Berufung verfolgt der Kläger seinen Klageantrag weiter; die Beklagten verteidigen die erstinstanzliche Entscheidung.
II.
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Die zulässig, insbesondere form- und fristgerecht erhobene Berufung ist nicht begründet. Die erstinstanzliche Entscheidung hält dem Berufungsangriff im Ergebnis stand.
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1. Das Erstgericht ist zunächst davon ausgegangen, dass sowohl die Beklagten als auch der Kläger grundsätzlich für die Folgen des streitgegenständlichen Unfallgeschehens gemäß §§ 7,18 StVG i.V.m. § 115 VVG n.F. einzustehen haben, weil die Unfallschäden jeweils bei dem Betrieb eines Kraftfahrzeugs entstanden sind, der Unfall nicht auf höhere Gewalt zurückzuführen ist und für keinen der beteiligten Fahrer ein unabwendbares Ereignis im Sinne des §§ 17 Abs. 3 StVG darstellte. Dies ist zutreffend und wird von der Berufung auch nicht in Zweifel gezogen.
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2. Das Erstgericht hat ferner einen Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Klägers angenommen. Auch dies ist entgegen der Berufung jedenfalls im Ergebnis nicht zu beanstanden.
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a) Allerdings hat die Kammer Zweifel an der Richtigkeit der Auffassung des Erstgerichts, wonach ein Anscheinsbeweis für einen Verstoß des Klägers gegen die beim Spurwechsel bestehende höchste Sorgfaltspflicht des Spurwechslers gem. § 7 Abs. 5 StVO spreche. Der Kläger ist nämlich nach eigener Darlegung auf dem Standstreifen gefahren, um anschließend auf den Ausfädelstreifen der Ausfahrt … zu gelangen. Der Standstreifen ist zwar Teil der Autobahn, gehört aber nicht zur Fahrbahn und stellt deshalb auch keine Fahrspur i.S.d. § 7 StVO dar (vgl. BVerfG DAR 1997, 152; BGHSt 30, 85; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht 41. Aufl., § 18 StVO 14b; Burmann/Heß/Jahnke/Janker, Straßenverkehrsrecht, 21. Aufl. § 5 StVO Rdn. 59a, je m.w.N.). Es ist daher naheliegend, das Einfahren von der Standspur als Einfahren in die Fahrbahn aus anderen Straßenteilen i.S.d. § 10 Satz 1 StVO anzusehen mit der Folge, dass den Einfahrenden ein Höchstmaß an Sorgfalt beim Einfahren in den fließenden Verkehr trifft. Im Ergebnis führt dies zu keiner anderen Beurteilung, weil auch hier – wie im Rahmen der vom Spurwechsler nach § 7 Abs. 5 StVO einzuhaltenden größtmöglichen Sorgfalt – ein Anscheinsbeweis für ein Verschulden des Einfahrenden spricht, wenn es in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Einfahren zu einer Kollision mit dem fließenden Verkehr kommt (statt aller Burmann u.a. aaO § 10 StVO Rdn. 8 m.w.N.).
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b) Nicht anders ist die Situation zu beurteilen, wenn – was die Darstellung des Klägers letztlich offen lässt – der Kläger von der Standspur bereits auf den Ausfädelstreifen der Ausfahrt gelangt war und von dort auf die rechte Fahrspur der Autobahn wechseln wollte. Auch hier liegt die Anwendung des § 10 StVO näher als eine Heranziehung der Sorgfaltspflichten des § 7 Abs. 5 StVO, weil die Ausfädelspur ebenfalls nicht Teil der Fahrbahn ist, sondern eine von dieser unterschiedene, selbstständige Fahrspur bildet (vgl. Burmann u.a. aaO § 18 StVO Rdn. 11).
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3. Das Erstgericht hat weiter angenommen, dass der Kläger den Anscheinsbeweis nicht zu erschüttern vermocht hat. Es ist aufgrund der Beweisaufnahme davon ausgegangen, dass der nähere Unfallhergang nicht mehr aufklärbar sei. Insbesondere sei nicht mehr sicher feststellbar, ob die Unfallschilderung des Klägers zutreffe, wonach das Klägerfahrzeug mit deutlichem Abstand zum Beklagtenfahrzeug in die rechte Fahrbahn eingefahren sei und bereits in Querstellung auf der Autobahn gestanden habe, als der Erstbeklagte anstelle abzubremsen lediglich hupend in das stehende Fahrzeug hinein gefahren sei. Hiergegen wendet sich die Berufung ebenfalls ohne Erfolg.
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a) In tatsächlicher Hinsicht ist das Berufungsgericht nach § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO an die vom Gericht des ersten Rechtszuges festgestellten Tatsachen gebunden, soweit nicht konkrete Anhaltspunkte Zweifel an der Richtigkeit oder Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen begründen und deshalb eine erneute Feststellung gebieten. Konkreter Anhaltspunkt in diesem Sinne ist jeder objektivierbare rechtliche und tatsächliche Einwand gegen die erstinstanzlichen Feststellungen. Bloß subjektive Zweifel, lediglich abstrakte Erwägungen oder Vermutungen der Unrichtigkeit ohne greifbare Anhaltspunkte wollte der Gesetzgeber ausschließen (vgl. BGHZ 164, 330, 332 m.w.N.).
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b) Konkrete Anhaltpunkte, die solche Zweifel begründen und eine erneute Feststellung gebieten könnten, liegen nicht vor. In ihrer Beweiswürdigung hat sich die Erstrichterin vielmehr entsprechend dem Gebot des § 286 ZPO mit dem Prozessstoff und den Beweisergebnissen umfassend und widerspruchsfrei auseinandergesetzt, ohne gegen Denk- oder Erfahrungssätze zu verstoßen. Insbesondere ist nicht zu beanstanden, dass das Erstgericht der Darstellung des Klägers nicht zuletzt mit Blick auf die entgegenstehende Darlegung des Erstbeklagten nicht gefolgt ist. Zwar weist die Berufung mit Recht darauf hin, dass die Darstellung des Erstbeklagten in einigen Punkten unzutreffend ist. Einerseits liegen nämlich die Schäden des Wohnmobils im linken mittleren bis hinteren Bereich des Fahrzeugs (Bl. 59 f. d.A.), so dass die Angaben des Erstbeklagten in seiner Vernehmung, der Zusammenstoß sei in Höhe des Führerhauses erfolgt, nicht richtig sein kann. Zum Anderen ist anhand der Ermittlungsakte belegt, dass die Ausfahrt … – anders als dies der Erstbeklagte wahrgenommen hatte – tatsächlich aufgrund eines Verkehrsunfalls gesperrt war. Dass das Erstgericht dennoch die Unfalldarstellung des Erstbeklagten nicht nachhaltig in Zweifel gezogen hat, ist indes nicht zu beanstanden. Im Kern ist die Darlegung des Erstbeklagten nämlich in sich schlüssig und daher nicht, jedenfalls nicht offensichtlich in Zweifel zu ziehen. Aufgrund der Information des Sachverständigen … ist der Anstoß zudem ausweislich der Schadensbilder sehr spitzwinklig erfolgt. Bei einem solchen Anstoßwinkel genügen auf der Horizontalachse nur wenige Zentimeter, um den Kollisionspunkt auf der Vertikalachse deutlich nach vorne oder hinten zu verschieben, was wiederum die Fehlerhaftigkeit der Wahrnehmung des Erstbeklagten relativiert. Im Übrigen ist auch die Auskunft des Erstbeklagten, eine Sperrung der Autobahnausfahrt habe nicht vorgelegen, nicht geeignet, seine Darlegung ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Wie gut die Sperrung der Autobahnausfahrt für den herannahenden Verkehr erkennbar war und ob der Erstbeklagte die Sperrung schlicht nicht wahrgenommen hat, bleibt offen, zumal wieder einfahrende Fahrzeuge aus der Ausfädelspur in Stausituationen nicht so ungewöhnlich sind, dass aufgrund dessen auf eine Sperrung der Ausfahrt zwingend geschlossen werden kann. Da auch die Angabe des Klägers, sein Fahrzeug sei bereits zu 2/3 auf der Autobahnfahrspur gewesen, zweifelhaft ist und die Aussage der Zeugin … angesichts zahlreicher Widersprüche und Ungereimtheiten vom Amtsgericht zu Recht als unergiebig angesehen wurde, begegnet die Einschätzung des Erstgerichts, der Sachverhalt sei insoweit nicht mehr aufklärbar, keinen Bedenken.
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c) In rechtlicher Hinsicht begegnet die Annahme, der Anscheinsbeweis sei nicht erschüttert, ebenfalls keinen Bedenken. Insbesondere lässt sich die Rechtsprechung zu den Sorgfaltspflichten beim Einfahren von der Beschleunigungsspur einer Autobahneinfahrt bei Stop-and-go-Verkehr hier nicht übertragen. Während dort ein LKW-Fahrer regelmäßig damit rechnen muss, dass ein sich auf der Beschleunigungsspur befindliches Fahrzeug rechts vor ihm auf die Fahrspur einfädeln wird, so dass ein Anscheinsbeweis entfällt oder zumindest erschüttert wird (vgl. OLG Hamm DAR 2001, 359; OLG München, Urt. v. 4.9.2009 – 10 U 3291/09, Juris), ist dies für die Ausfädelspur, die anders als die Beschleunigungsspur nicht der Einfahrt sondern der Ausfahrt dient, anders zu beurteilen. Hier muss der herannahende Fahrer gerade nicht mit einem (Wieder-)Einfahren von bereits Ausfahrenden rechnen. Dies gilt auch für den Fall, dass Verkehrsteilnehmer zuvor – in verbotener Weise – den Standstreifen gewählt hatten, um an den auf der rechten Fahrspur stehenden Fahrzeugen vorbei zu fahren. Wollen diese dann – vom Standstreifen oder von der Ausfädelspur – erneut auf die Fahrspur einfahren, gilt für sie das Gebot, jede Gefährdung des auf den Fahrspuren befindlichen Verkehrs auszuschließen, uneingeschränkt und unabhängig davon, ob Stau oder – wie hier – Stop-and-go-Verkehr herrscht. Ob dies anders zu beurteilen ist, wenn etwa aufgrund entsprechender Warnhinweise auf der Fahrbahn offensichtlich erkennbar ist, dass infolge einer Fahrbahnsperrung ein Wiedereinfädeln der Ausfahrenden zwingend erforderlich ist, kann hier dahingestellt bleiben. Denn der Kläger hat selbst eingeräumt, er habe erst in der Ausfahrt erkennen können, dass die Ausfahrt in Höhe … gesperrt war. Dass deshalb der Erstbeklagte die Sperrung hätte frühzeitig erkennen und sein Verhalten darauf einrichten müssen, ergibt sich hieraus gerade nicht.
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4. Ein Verschulden des Erstbeklagten hat das Erstgericht folgerichtig nicht feststellen können. Soweit es im Rahmen der gem. § 17 Abs. 1, 2 StVG gebotenen Abwägung der wechselseitigen Verursachungs- und Verschuldensanteile auch die verbleibende Betriebsgefahr des Beklagtenfahrzeuges zurücktreten hat lassen, begegnet dies keinen Bedenken. Weil der Einfahrende jegliche Gefährdung des fließenden Verkehrs ausschließen muss, tritt die Betriebsgefahr eines im fließenden Verkehr befindlichen Fahrzeuges regelmäßig zurück (statt aller: Burmann/Heß/Jahnke/Janker aaO § 10 Rdn. 8 m.w.N.); den Kläger trifft daher die Verantwortung für das Unfallgeschehen allein.
III.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 ZPO und die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit auf §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO, § 26 Nr. 8 EGZPO. Die Revision war nicht zuzulassen, da die Sache keine grundsätzliche Bedeutung hat und sie keine Veranlassung gibt, eine Entscheidung des Revisionsgerichts zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung herbeizuführen (§ 543 Abs. 2 ZPO).