Rollstuhlfahrer ist im Bus für Standfestigkeit seines Rollstuhls verantwortlich

LG Berlin, Beschluss vom 07.06.2011 – 57 S 110/11

1. Ein Rollstuhlfahrer, der einen Linienbus im öffentlichen Personennahverkehr benutzt, ist allein dazu verpflichtet, für die Sicherheit und Standfestigkeit seines Rollstuhls zu sorgen.

2. Der Busfahrer, der dem Rollstuhlfahrer die Einfahrt in den Bus durch Herunterlassen der Rampe ermöglicht und sich danach wieder auf seinen Fahrersitz begibt, trifft keine Verpflichtung, für das Anschnallen des Rollstuhls zu sorgen, weil er angesichts der inzwischen vergangenen Zeit davon ausgehen durfte, dass sich der Rollstuhlfahrer selbst in zumutbarer Weise um die Sicherung des Rollstuhls gekümmert hat.

3. Der Rollstuhlfahrer, der sich nicht selbst in zumutbarer Weise um die Sicherung des Rollstuhls gekümmert hat, haftet allein, wenn der Rollstuhl bei einem Bremsmanöver des Busses umkippt, beschädigt wird und der Fahrgast sich dabei verletzt.

Tenor

1. Die Kammer beabsichtigt, die Berufung der Klägerin gegen das am 23. Februar 2011 verkündete Urteil des Amtsgerichts Mitte – 11 C 303/10 – gemäß § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO zurückzuweisen.

2. Es ist ferner beabsichtigt, den Streitwert für die II. Instanz auf 809,89 € festzusetzen.

3. Der Klägerin wird Gelegenheit gegeben, innerhalb von 2 Wochen seit Zugang dieses Beschlusses hierauf Stellung zu nehmen.

Gründe

1

Die Berufung der Klägerin hat nach Auffassung der Kammer keine Aussicht auf Erfolg. Da die Rechtssache auch keine grundsätzliche Bedeutung hat und die Rechtsfortbildung oder die Sicherung der einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts nicht erfordert, ist beabsichtigt, die Berufung nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.

2

Nach § 513 Abs. 1 ZPO kann die Berufung erfolgreich nur darauf gestützt werden, dass die angefochtene Entscheidung auf einer Rechtsverletzung beruht oder nach § 529 ZPO zugrunde zu legende Tatsachen eine andere Entscheidung rechtsfertigen. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben, das Amtsgericht hat die Klage zu Recht abgewiesen.

3

1. Ansprüche der Klägerin aus §§ 831, 631 (Beförderungsvertrag), 278, 280, 253 BGB bestehen nicht, weil der Fahrer des Busses sich nicht widerrechtlich verhalten bzw. nicht schuldhaft seine Pflichten verletzt hat.

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Grundsätzlich gilt nach der ständigen obergerichtlichen Rechtsprechung, dass der Fahrgast in aller Regel sich selbst überlassen bleibt und nicht damit rechnen kann, dass der Fahrer, der mit Rücksicht auch auf andere Verkehrsteilnehmer den Straßenverkehr beachten muss, sich um ihn kümmert (vgl. dazu z.B. BGH NJW 93, 654; 99, 573).

5

Der Fahrer ist nur ausnahmsweise verpflichtet, sich um die Sicherheit eines Fahrgastes zu kümmern oder sich zu vergewissern, ob dieser Halt oder einen Platz im Fahrzeug gefunden hat, nämlich dann, wenn für den Fahrer deutlich erkennbar Anhaltspunkte bestehen, dass der Fahrgast hilfsbedürftig ist, z.B. eine schwerwiegende Behinderung erkennbar ist, welche dem Fahrer die Überlegung aufdrängt, dass der Gast ohne besondere Rücksichtnahme gefährdet ist (BGH a.a.O.). Solche Behinderungen hat die Rechtsprechung bejaht in Fällen von Gehbehinderungen infolge von Amputationen und/oder Benutzung von Krücken sowie bei blinden Fahrgästen (BGH NJW 93 a.a.O.; siehe auch LG Lübeck v. 14.02.07, 4 O 157/06, zitiert nach Juris).

6

Vorliegend war zwar die Klägerin erkennbar insoweit behindert, dass sie auf einen Rollstuhl angewiesen war. Anders als z.B. ein Beinamputierter war die Klägerin aber gerade infolge ihres sicheren Sitzes im Rollstuhl nicht in der Weise behindert, dass dem Fahrer sich die Überlegung aufdrängen musste, sie sei ohne seine besondere Rücksichtnahme gefährdet.

7

Ein Gehbehinderter ohne Rollstuhl ist darauf angewiesen, dass der Fahrer wartet, bis er einen sicheren Halt und/oder einen Sitzplatz gefunden hat. Vorliegend hatte der Fahrer insoweit der erkennbar behinderten Klägerin das Einfahren in den Bus durch Betätigung der Rampe an der mittleren Tür ermöglicht, sodann die Rampe wieder eingeklappt und sich dann zur Fortsetzung der Fahrt auf seinen Fahrersitz begeben. Angesichts dieser Umstände, der Räumlichkeiten im fraglichen Bus und dem Ablauf der Zeit bis zur Weiterfahrt hat der Fahrer die vorliegend erforderliche Rücksichtsnahme auf die Klägerin an den Tag gelegt und durfte nun davon ausgehen, dass sich die Klägerin selbst in zumutbarer Weise um eine Sicherung ihres Rollstuhls kümmert (vgl. BGH NJW 93, a.a.O.), ihren Rollstuhl also derart positioniert, dass er an der für Rollstühle vorgesehene Stelle steht, und zwar in oder gegen die Fahrtrichtung und nicht quer dazu, die vorhandene Gurteinrichtung benutzt und sich sodann angemessen festhält. Das ist vergleichbar mit der Erwartung, dass z.B. ein beinamputierter Fahrgast, der einen Sitzplatz gefunden hat, nunmehr selbst darauf achtet, sich für die Weiterfahrt festzuhalten. Denn nun musste dieser, wie auch die Klägerin, jederzeit damit rechnen, dass beim Betrieb eines Busses – insbesondere im Großstadtverkehr – ruckartige Bewegungen auftreten können (vgl. z.B. auch KG Berlin, VerkMitt 96, 45).

8

Den Fahrer traf damit entgegen der Ansicht der Klägerin keine weitergehende Verpflichtung, für das Anschnallen des Rollstuhls zu sorgen oder der Klägerin Hinweise zu geben, wie sie sich sichern kann und muss. Insoweit wird auf die zutreffenden Ausführen auf Seite 4 und 5 des angefochtenen Urteils verwiesen.

9

Soweit die Klägerin erstmals in II. Instanz behauptet, sie habe sich anschnallen wollen, der Gurt sei aber zu kurz gewesen, so ist dieser Vortrag bereits nach §§ 529, 531 ZPO präkludiert. Denn die anwaltlich vertretene Klägerin hatte aufgrund des Vortrages der Beklagten schon in der Klageerwiderung allen Anlass, weiter vorzutragen, dass sie sich ggf. nicht mittels Gurtes habe sichern können.

10

Im übrigen hätte die Klägerin dann den Busfahrer mindestens auf diesen Umstand hinweisen müssen, damit dieser etwa daraus entstehenden Pflichten nachkommen konnte. Daran fehlt es.

11

2. Der Fahrer des Busses hat auch nicht durch einen Fahrfehler die Verletzungen der Klägerin schuldhaft verursacht, z.B. durch grundloses scharfes Abbremsen. Die Darlegungs- und Beweislast für einen solchen Fahrfehler liegt bei der Klägerin. Insbesondere begründet allein der Sturz der Klägerin keinen Anscheinsbeweis für eine sorgfaltwidrige Fahrweise des Busfahrers (KG, VRR 2011, 64). Vielmehr hat ein Busfahrer ggf. auch dann hart zu bremsen, wenn es die konkrete Verkehrssituation erfordert und er damit einen Zusammenstoß mit einem anderen Fahrzeug vermeidet.

12

Dass die streitige Bremsung ohne Anlass und damit grundlos war, hat die Klägerin nicht vorgetragen und das amtsgerichtliche Urteil insoweit auch mit ihrer Berufungsbegründung nicht weiter angegriffen.

13

3. Auch ein Anspruch der Klägerin aus §§ 7, 8a StVG ist nicht gegeben. Zwar liegen die Voraussetzungen dieser Vorschriften vor, anerkanntermaßen tritt aber die Betriebsgefahr des Busses aufgrund eines schwerwiegenden Selbstverschuldens des Fahrgastes regelmäßig zurück (vgl. KG a.a.O.).

14

Im Rahmen der nach §§ 9 StVG, 254 BGB vorzunehmenden Abwägung der Verschuldensanteile ist zu berücksichtigen, dass – allgemein bekannt – es im Straßenverkehr auch zu stärkeren Bremsmanövern kommen kann (siehe oben) und dass die Klägerin sich nach der Einfahrt in den Bus einen festen Halt zu verschaffen hatte (siehe oben). Vorliegend hat die Klägerin es aber versäumt,

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– sich anzuschnallen,

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– sich in oder gegen die Fahrtrichtung und auf dem für Rollstühle vorgesehenem Platz zu stellen,

17

– sich ggf. mit zwei Händen (vgl. LG Köln v. 02.04.09, 29 O 134/08, zitiert nach juris) festzuhalten, anstatt in ihrer Handtasche „zu kramen“.

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Ein Fahrgast, der sich keinen festen Halt verschafft, obwohl er das in zumutbarer Weise kann, handelt grob schuldhaft (KG a.a.O. m.w.N.; BGH NJW 93 a.a.O. am Ende), was seine Alleinhaftung begründet. So liegt es hier.

19

Der Klägerin wird anheim gestellt, die Rücknahme der Berufung auch aus Kostengründen zu erwägen.

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