Großbritannien ist auch nach dem Austritt aus der Europäischen Union für den Übergangszeitraum bis Ende 2020 als Mitgliedstaat der EU im Sinne des § 110 Abs. 1 ZPO anzusehen

LG Dortmund, Urteil vom 15. Juli 2020 – 10 O 27/20

Großbritannien ist auch nach dem Austritt aus der Europäischen Union für den Übergangszeitraum bis Ende 2020 als Mitgliedstaat der EU im Sinne des § 110 Abs. 1 ZPO anzusehen.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Der Antrag der Beklagten auf Leistung von Sicherheit für die Prozesskosten durch die Klägerin wird zurückgewiesen.

Die Kostenentscheidung bleibt der Endentscheidung vorbehalten.

Tatbestand
1
Zwischen den Parteien besteht Streit, ob die Klägerin verpflichtet ist, eine Prozesskostensicherheit gem. § 110 ZPO zu leisten; die Klägerin beruft sich auf einen tatsächlichen Verwaltungssitz in London.

2
Mit der Klage verlangt die Klägerin die Rückzahlung von 420.000,00 USD wegen Nichtlieferung von der Beklagten nach UN-Kaufrecht erworbener 6 Fahrzeuge der Marke BMW, Modell X5 35i.

3
Die Klägerin hat ihren Satzungssitz auf den Seychellen. Sie ist befasst mit dem Import und Export von Kraftfahrzeugen in den fernen Osten. Das Geschäft erfolgt durch Erwerb und Verkauf im eigenen Namen und auf eigene Rechnung sowie durch organisatorische Abwicklung von Käufen und Verkäufen nebst des Transportes von Kraftfahrzeugen für eigene Vertragspartner.

4
Zu diesem Zweck hatte die Klägerin bis vor kurzem (Sachvortrag zur Zeit der Klageschrift vom 27.12.2019) ein eigenes Büro in Hongkong nebst dortiger Geschäftsadresse.

5
Die Beklagte meint, die Voraussetzungen des § 110 ZPO lägen vor.

6
Da die Klägerin ihren Sitz in der Republik Seychellen habe, sei sie nicht von der Leistung der Prozesskostensicherheit befreit. Die Klägerin könne sich jedenfalls nicht mehr mit Erfolg darauf berufen, dass sie ihren Sitz nicht unter der im Klagerubrum angegebenen Anschrift (Seychellen) habe, sondern in London.

7
Bei der angegebenen Anschrift in London (Unit 16 Q. Park …) handele es sich nur um einen Briefkastensitz. Unter der Anschrift seien 95 unterschiedliche Unternehmen registriert. Es gebe unter der Anschrift keine für die Leitung eines Unternehmens tatsächlich hinreichend ausgestatteten Geschäftsräume. Die Klägerin verfüge in England weder über Gesellschaftsvermögen noch Einnahmen oder Ausgaben.

8
Der Geschäftsführer der Klägerin habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Hongkong. Es sei deshalb ausgeschlossen, dass er in London seiner Geschäftsführertätigkeit nachgehe.

9
Die Beklagte meint, die Klägerin müsse auch dann Prozesskostensicherheit leisten, wenn sie ihren Verwaltungssitz tatsächlich in Großbritannien hätte. Die deutschen Vollstreckungstitel sein nach dem Brexit nicht mehr nach der Brüssel I a VO in Großbritannien vollstreckbar. Großbritannien sei eben kein Mitgliedsstaat der Europäischen Union bzw. kein Vertragsstaat des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum mehr. Es seien bis heute auch keine völkerrechtlichen Verträge im Sinne des § 110 Abs. 2 Nr. 1, 2 ZPO mit Großbritannien geschlossen worden.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klägerin zu verpflichten, wegen der Prozesskosten Sicherheit gem. § 110 ZPO zu leisten.

12
Die Klägerin beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

14
Sie ist der Auffassung, es komme nicht auf den Satzungssitz, sondern auf ihren tatsächlichen Verwaltungssitz an. Hierzu behauptet sie, sie habe ihren tatsächlichen Verwaltungssitzsitz in einem großen Gewerbepark in London (Unit 16 Q. Park …); von dort erfolge ihre tatsächliche Verwaltung durch die Geschäftsführung. Unter der vorgenannten Anschrift befinde sich ein physisches Büro mit entsprechendem Personal der Klägerin.

15
Der Geschäftsführer der Klägerin habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt nicht in Hongkong. Vielmehr habe dieser sogar seinen regulären Wohnsitz in London und sei allein wegen geschäftlicher Angelegenheiten des Öfteren auch im Fernen Osten unterwegs.

16
In Hongkong befinde sich lediglich ein Zweigbüro.

17
Sie ist ferner der Auffassung, § 110 Abs. 1 ZPO sei nicht erfüllt, auch wenn das Vereinigte Königreich Großbritannien mittlerweile aus der Europäischen Union ausgeschieden sei. Denn nach Art. 126 ff. des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der europäischen Atomgemeinschaft vom 31.01.2020 sei das Vereinigte Königreich Großbritannien für einen – zumindest noch für das gesamte Jahr 2020 andauernden – Übergangszeitraum einem EU- Mitgliedsstaat gleichzustellen

Entscheidungsgründe
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Der Antrag der Beklagten ist unbegründet.

19
Die Klägerin hat nach ihrem unwiderlegten Vortrag ihren gewöhnlichen Aufenthalt in London und damit in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union im Sinne des § 110 Abs. 1 ZPO.

1.

20
Zwar ist Großbritannien aufgrund des sog. Brexit nach dem 31.01.2020 kein Mitgliedsstaat der EU mehr. Aufgrund der Fiktion des § 1 des Gesetzes für den Übergangszeitraum nach dem Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union (BrexitÜG) in Verbindung mit Art. 126 ff. des Abkommens über den Austritt des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland aus der Europäischen Union und der Europäischen Atomgemeinschaft gilt Großbritannien im Bundesrecht weiter als Mitgliedstaat der Europäischen Union. Da auch eine Ausnahme gem. § 2 BrexitÜG nicht ersichtlich ist, gilt die Fiktion für die bundesrechtliche Norm des § 110 ZPO.

21
Großbritannien wird im Rahmen des § 110 ZPO erst ab Januar 2021 nicht mehr als Mitglied der EU zu behandeln sein (BeckOK ZPO, Vorwerk/Wolf, 36. Edition, Stand: 01.03.2020, § 110, Rn. 17, Rn. 25.1; vgl. Reeg, IWRZ 2020,105 (106), jeweils ohne Verweis auf § 1 BrexitÜG;).

22
Eine vom Wortlaut abweichende Auslegung ist vorliegend nicht im Hinblick auf schutzwürdige Interessen der Beklagten geboten. Denn § 111 ZPO ermöglicht ein Verlangen nach Prozesskostensicherheit auch dann noch, wenn die Voraussetzungen für die Verpflichtung zur Sicherheitsleistung erst im Laufe des Rechtsstreits eintreten. Dies wäre dann gegeben, wenn Großbritannien nach Ablauf des Übergangszeitraumes nicht mehr als Mitglied der Europäischen Union anzusehen wäre – und dann auch keine Fälle des § 110 Abs. 2 ZPO vorlägen – (vgl. LG Düsseldorf, Zwischenurteil vom 27.09.2018, Az. 4c O 28/18 = BeckRS 2018, 38892). Soweit Schroeder/Loy (jurisPR-WettbR 3/2019 Anm. 6 – zu dem vorgenannten Urteil -) wegen schutzwürdiger Belange des Beklagten annehmen, dass § 110 Abs. 1 ZPO vor dem Hintergrund des Schutzzwecks der Norm ein perspektivisches Element inhärent sei, ist dem im Hinblick auf den eindeutigen Wortlaut zu widersprechen. Zudem wird schutzwürdigen Belangen des Beklagten durch § 111 ZPO bei zutreffender Anwendung dieser Norm hinreichend Rechnung getragen.

2.

23
Die Beklagte hat den Vortrag der Klägerin, wonach diese ihren gewöhnlichen Aufenthalt in London habe, nicht widerlegt.

a)

24
Nach der Rechtsprechung des BGH, der das erkennende Gericht folgt, ist als Ort des gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne von § 110 ZPO bei Kapitalgesellschaften der Verwaltungssitz anzusehen (NJW-RR 2017, 1320 mit weiteren Nachweisen, auch zu der Gegenauffassung). Maßgebend dafür, wo eine juristische Person ihren Verwaltungssitz hat, ist der Tätigkeitsort der Geschäftsführung und der dazu berufenen Vertretungsorgane, also der Ort, wo die grundlegenden Entscheidungen der Unternehmensleitung effektiv in laufende Geschäftsführungsaktivitäten umgesetzt werden (BGH a.a.O.).

25
Für die Behauptung, dass sich ein Verwaltungssitz nicht in der Europäischen Union befindet, ist jeweils die eine Prozesskostensicherheit begehrende Beklagte beweispflichtig (BGH a.a.O., m.w.N). Dabei dürfen an die Vortragslast der Beklagten keine überspannten Anforderungen gestellt werden, da diese keine eigenen Kenntnisse über die interne Organisationsstruktur der Klägerin haben, während dieser die erforderliche Aufklärung ohne weiteres möglich und zumutbar ist (sekundäre Darlegungslast). Ausreichend ist es daher, dass eine Beklagte plausible Anhaltspunkte aufzeigt, aus denen sich ergibt, dass eine Klägerin ihren tatsächlichen Verwaltungssitz nicht in der Europäischen Union hat. Gelingt dies, trifft eine Klägerin einer sekundäre Darlegungslast, welche jedoch nicht zu einer Verpflichtung führt, einer Beklagten alle für ihren Prozesserfolg benötigten Informationen zu verschaffen. Es wird „nur“ im Rahmen des Zumutbaren das substantiierte Bestreiten der behaupteten Tatsachen unter Darlegung der für das Gegenteil sprechenden Tatsachen und Umstände verlangt (OLG Düsseldorf GRUR-RS 2017,113388 m.w.N).

26
Hieran gemessen ist die Klägerin ihrer sekundären Darlegungslast gerecht geworden, während die Beklagte beweisfällig geblieben ist. Die Beklagte hat keine plausiblen Anhaltspunkte dafür aufgezeigt, dass es sich bei der Adresse in London nur um einen „Briefkastensitz“ handele. Soweit die Beklagte dies mit einer Liste von 95 unterschiedlichen Unternehmen belegen will, die unter der Adresse „Unit 16 Q. Park …“ registriert seien, so geht dies bereits im Ansatz fehl. Unter der vorgenannten Adresse befindet sich, wie von der Klägerin vorgetragen, ein großer Gewerbepark, was sich leicht durch eine einfache Internetrecherche nachvollziehen lässt (Feststellungen im Rahmen des § 110 ZPO können im Freibeweisverfahren getroffen werden, da es sich bei dem Verlangen nach Leistung einer Prozesskostensicherheit um eine prozesshindernde Einrede handelt, OLG Düsseldorf a.a.O., m.w.N.). Die Beklagte übersieht dabei zudem, dass die Anschrift mit „Unit 16“ näher gekennzeichnet war. An einem näheren Sachvortrag und Beweisantritt dafür, dass die Klägerin in dieser konkreten Einheit des Gewerbeparks kein Büro unterhält, fehlt es. Die Unterteilung in verschiedene Units und Suits war im Übrigen auch schon aus der von der Beklagten überreichten Liste ersichtlich.

27
Für ihre Behauptung, der Geschäftsführer der Klägerin habe seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Hongkong, hat die Beklagte keinen Beweis angetreten.

28
Etwas anderes folgt auch nicht daraus, dass die Klägerin im Rubrum ihren statuarischen Sitz angab. Die indizielle Bedeutung für die Frage, von wo aus die Klägerin ihre Geschäfte betreibt, ist gering. Die Identifikation der Klägerin ist auch über den statuarischen Sitz möglich. Dass es sich nicht um eine zustellungsfähige Anschrift handelt steht nicht fest.

29
Nach alledem war zu erkennen wie geschehen.

30
Da es sich um ein Zwischenurteil zwischen den Parteien des Rechtsstreits handelt, war eine Kostenentscheidung nicht zu treffen; diese bleibt dem Endurteil vorbehalten.

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