AG Saarbrücken, Urteil vom 14.12.2005 – 36 C 190/04
In der Rechtsprechung ist seit der grundlegenden Entscheidung des BGH vom 01.12.1992 – VI ZR 27/92, NJW 1993, 654 f., anerkannt, dass der Fahrgast eines Linienbusses in aller Regel sich selbst überlassen ist und nicht damit rechnen kann, dass der Fahrer, der mit Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer seine Aufmerksamkeit auf das Verkehrsgeschehen lenken muss, sich um ihn kümmert. Nur ausnahmsweise muss sich der Fahrer vergewissern, ob der Fahrgast einen Platz oder Halt im Wagen gefunden hat (Rn. 14).
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 120 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagten Sicherheit in entsprechender Höhe leisten.
Tatbestand
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Am 12.08.2003 kam die Klägerin in S als Fahrgast in einem Bus der Linie 39, der von dem Beklagten zu 2) gelenkt wurde und bei der Beklagten zu 3) haftpflichtversichert ist, zu Fall. Der Linienbus verkehrte im Auftrag der Beklagten zu 1) als Personenbeförderer. Über den Unfallhergang besteht zwischen den Parteien Streit.
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Die Klägerin behauptet, dass sie gegen 14.48 Uhr in den Bus am Rathaus von S in Richtung S-R gestiegen sei. Sie sei mit mehreren Einkauftaschen bepackt und der letzte Fahrgast gewesen, der in den Bus einsteigen wollte. Sie sei durch einen Grad der Behinderung von 50 in ihrer Bewegungsfähigkeit behindert. Die Beklagte führt weiter aus, dass sie auf einen der freien Sitzplätze zugesteuert sei, als der Beklagte zu 2) plötzlich ruckartig angefahren sei und gleich wieder abgebremst habe, ohne dass es für sie eine Möglichkeit gegeben habe, sich festzuhalten. Hierdurch sei sie zu Fall gekommen, wobei sie mit dem rechten Fuß umgeknickt, mit dem Kopf gegen eine Stange eines Doppelsitzes aufgeschlagen und auf den linken Ellenbogen gefallen sei. Dabei sei auch die von ihr getragene Brille zerstört worden.
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Die Klägerin beantragt,
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1. die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an sie 1.116,08 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem Basiszinssatz gem. § 247 BGB seit Rechtshängigkeit zu zahlen,
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2. die Beklagten zu verurteilen, als Gesamtschuldner an sie ein angemessenes Schmerzensgeld für die bei dem Verkehrsunfall vom 12.08.2003 erlittenen Verletzungen nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz gem. § 247 BGB seit Rechtshängigkeit zu zahlen,
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3. festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, ihr alle materiellen und immateriellen Schäden zu ersetzen, die ihr aus dem Verkehrsunfall vom 12.08.2003 in S, B straße noch entstehen werden, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder anderen Dritten übergegangen ist.
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Die Beklagten beantragen,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagten behaupten, dass es vor dem Sturz der Klägerin zu keinen ruckartigen Fahrmanövern gekommen sei. Sie meinen, dass die Klägerin in Kauf genommen habe, sich keinen sicheren Halt zu verschaffen. Das Verhalten der Klägerin könne nur als grob fahrlässig gewertet werden. Im übrigen bestreiten die Beklagten die Entstehung von Schäden.
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Das Gericht hat Beweis erhoben gem. den Beweisbeschlüssen vom 19.10.2005 und 16.11.2005. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf den Inhalt der Sitzungsprotokolle vom 19.10.05 und 16.11.05 Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Klägerin stehen gegen die Beklagten weder Ansprüche auf Schadensersatz noch Ansprüche auf Schmerzensgeld zu.
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1. Die Klägerin hat gegen die Beklagte zu 1) aus dem zwischen ihr und der Beklagten zu 1) abgeschlossenen Personenbeförderungsvertrag keinen Anspruch auf Schadensersatz wegen Schlechterfüllung nach § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB. Denn die Beklagte zu 1) hat keine ihr obliegende Pflicht aus dem Personenbeförderungsvertrag verletzt. Die Beklagte zu 1) müsste zwar für eine entsprechende Pflichtverletzung des Beklagten zu 2) nach § 278 Satz 1 BGB einstehen, da der Beklagte zu 2), was nicht weiter in Rede steht, als ihr Erfüllungsgehilfe i.S.d. § 278 Satz 1 BGB angesehen werden muss. Allerdings kann dem Beklagten zu 2) kein schuldhafter Pflichtverstoß vorgehalten werden.
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a) In der Rechtsprechung ist seit der grundlegenden Entscheidung des BGH vom 01.12.1992 – VI ZR 27/92, NJW 1993, 654 f., anerkannt, dass der Fahrgast eines Linienbusses in aller Regel sich selbst überlassen ist und nicht damit rechnen kann, dass der Fahrer, der mit Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer seine Aufmerksamkeit auf das Verkehrsgeschehen lenken muss, sich um ihn kümmert. Nur ausnahmsweise muss sich der Fahrer vergewissern, ob der Fahrgast einen Platz oder Halt im Wagen gefunden hat (BGH, NJW 1993, 654 f.; s. auch OLG Oldenburg, MDR 1999, 1321 f.; OLG Frankfurt NZV 2002, 367; LG Kassel, VersR 1995, 111; AG Remscheid, NZV 2002, 185 und VRS 102, 22 ff.; AG München, VRS 108, 21 f.). Ein Busfahrer ist nach diesen Grundsätzen in aller Regel nicht verpflichtet, sich vor dem Anfahren zu vergewissern, ob sämtliche Fahrgäste sitzen oder sich auf andere Art festen Halt verschafft haben. Jeder Fahrgast eines Busses muss nämlich selbst dafür Sorge tragen, dass er nicht durch typische und zu erwartende Bewegungen des Busses zu Fall kommt (OLG Frankfurt, NZV 2002, 367; LG Kassel, VersR 1995, 111; AG Remscheid, VRS 102, 22 ff.).
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Ausgehend von diesen Grundsätzen war danach zu fragen, ob vorliegend eine Ausnahmesituation dergestalt vorlag, dass der Beklagte zu 2) verpflichtet gewesen wäre abzuwarten, bis die Klägerin Platz genommen hatte. Von einer solchen Ausnahmesituation kann hier aber nicht ausgegangen werden.
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aa) Eine Ausnahmesituation, die den Fahrer eines Linienbusses verpflichtet, sich zu vergewissern, dass der jeweilige Fahrgast einen Sitzplatz oder wenigstens Halt gefunden hat, besteht dann, wenn für den Fahrzeugführer eine schwerwiegende Behinderung erkennbar ist, welche ihm die Überlegung aufdrängt, dass der Fahrgast ohne besondere Rücksichtnahme gefährdet ist (BGH NJW, 1993, 654 f., OLG Oldenburg, MDR 1999, 1321 f.; LG Kassel, VersR 1995, 111). Von einer Behinderung im vorbezeichneten Sinne kann hier nicht ausgegangen werden.
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Die Klägerin hat diesbezüglich selbst ausgeführt, dass sie zwar behindert sei, dass beim eigentlichen Gehen die Behinderung aber so gut wie nicht bemerkbar sei. Nach ihrer eigenen Aussage in ihrer informatorischen Anhörung wäre einem Dritten die Behinderung „wohl nicht aufgefallen“, vor allem einem Dritten, der sich damit nicht auskennt.
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Der Beklagte zu 2) hat in seiner informatorischen Anhörung ausgeführt, dass er bei der Klägerin zu keinem Zeitpunkt eine Behinderung festgestellt habe. Er hat in diesem Zusammenhang auch für das Gericht nachvollziehbar dargelegt, dass er auch deswegen keine Veranlassung hatte, von einer Behinderung bei der Klägerin auszugehen, da die Behinderten grundsätzlich zu ihm kommen, den Behindertenausweis vorzeigen und dann entsprechende Plätze zugewiesen bekommen. Schließlich hat auch die Zeugin S als Außenstehende bekundet, dass bei der Klägerin eine Behinderung nicht erkennbar gewesen sei.
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Alle Beteiligten waren sich daher über die fehlende Erkennbarkeit der Behinderung der Klägerin einig, so dass auch das erkennende Gericht keine Anhaltspunkte dafür hatte, einen Ausnahmefall aufgrund einer schwerwiegenden Behinderung der Klägerin anzunehmen. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Klägerin selbst ausgeführt hat, dass sie vorher noch gerannt sei, um den Bus zu erreichen und dann im Bus relativ schnell nach hinten gegangen sei. Bei einer schwerwiegenden Behinderung wäre solches mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht möglich gewesen.
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bb) Die Annahme einer Ausnahmesituation kommt auch nicht deshalb in Betracht, weil die Klägerin beim Einstieg in den Bus Taschen bei sich hatte. Der BGH hat selbst bei Taschen mit erheblichem Gewicht die Annahme einer Ausnahmesituation im oben bezeichneten Sinn abgelehnt. Dies wird zutreffend damit begründet, dass eine Behinderung durch das erhebliche Gewicht von Taschen nicht mit einer schwerwiegenden körperlichen Behinderung verglichen werden kann, weil es sich jedenfalls nicht um eine zwingende, unbehebbare Behinderung handelt, welche nur durch Rücksichtnahme seitens des Fahrer abgeholfen werden kann (BGH NJW 1993, 654 f.).
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cc) Auch das Alter eines Fahrgastes kann für sich allein genommen keine nach zutreffender Auffassung in der Rechtsprechung keine Ausnahmesituation begründen (BGH, NJW 1993, 654 f.; LG Kassel, VersR 1995, 111).
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b) Eine sonstige Pflichtverletzung des Fahrers konnte nicht nachgewiesen werden. Eine Pflichtverletzung kann zwar grundsätzlich auch in einem (fehlerhaften) Fahrverhalten des Fahrers eines Linienbusses gesehen werden. Allerdings konnte eine solche Pflichtverletzung vorliegend nicht zur Überzeugung des Gerichts nachgewiesen werden. Die Klägerin hat nicht beweisen können, dass der Beklagte zu 2) als Fahrer hier besonders abrupt und sehr ruckartig angefahren wäre (vgl. zu einer solchen Fallgestaltung auch AG Remscheid, VRS 102, 22 ff.).
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Das Gericht ist bereits nicht davon überzeugt, dass der Beklagte zu 2) besonders ruckartig angefahren ist bzw. abgebremst hat. Zwar hat die Zeugin F ausgeführt, dass dieser Bus besonders ruckartig gefahren sei. Diese Einschätzung vermochte allerdings die Zeugin S, die wie die Zeugin F regelmäßig diese Buslinie benutzt hat, nicht teilen. Angesichts dessen ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass der Bus im vorliegenden Fall besondere vom üblichen Maß erheblich abweichende ruckartige Bewegungen vollzogen hat. Das Gericht geht vielmehr davon aus, dass es sich hier um die üblichen, mit Abbremsen oder Anfahren entsprechender Busse einhergehender Bewegungen handelt, die sich für viele als „ruckartig“ darstellen. Jedenfalls reichen die verbliebenen Restzweifel beim erkennenden Gericht für die Annahme aus, dass ein atypisches Fahrverhalten hier nicht bejaht werden kann. Dies gilt insbesondere, wenn man berücksichtigt, dass ein Fahrgast in einem Omnibus des öffentlichen Personennahverkehrs und insbesondere im innerörtlichen Straßenverkehr ständig mit heftigen Bremsmanövern rechnen muss (AG München, VRS 108, 21 f.; vgl. auch OLG Frankfurt, NZV 2002, 367). Deshalb kann auch vorliegend dahinstehen, ob bei normalen Anfahrten ein Beweis des ersten Anscheins angenommen werden kann, dass der Sturz auf mangelnde Vorsicht des Fahrgastes zurückzuführen ist (vgl. dazu LG Düsseldorf, VersR 19983, 1044; OLG Oldenburg, MDR 1999, 1321 f.).
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2. Der Klägerin steht auch gegen den Beklagten zu 2) weder ein Schadensersatzanspruch noch ein Schmerzensgeldanspruch aus § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. § 249 ff. BGB zu. Ein entsprechender Anspruch scheitert bereits an der fehlenden Pflichtverletzung des Beklagten zu 2), was unter 1. näher begründet worden ist.
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3. Der Klägerin steht auch gegen die Beklagte zu 3) kein Schadensersatzanspruch oder Schmerzensgeldanspruch zu. Zwar kommt vorliegend grundsätzlich eine Haftung der Beklagten zu 3) als Haftpflichtversicherer i.S.d. § 3 Nr. 1 PflVG in Betracht. Allerdings ist anerkannt, dass in Fällen wie dem vorliegenden, in denen ein Fahrgast, ohne dass eine Pflichtverletzung des Fahrers vorliegt, zu Fall kommt, das Verschulden des Fahrgastes am Unfall so weit überwiegt, dass die Anrechnung der Betriebsgefahr, die von dem Bus ausgeht, vollständig zurücktritt (vgl. dazu nur OLG Frankfurt, NZV 2002, 367; LG Kassel, VersR 1995, 111). Die Haftung aus Betriebsgefahr nach § 7 Abs. 1 StVG kann sich daher nicht auswirken, so dass die Beklagte zu 3) mangels Vorliegens eines Haftungstatbestandes auf Seiten des Halters bzw. Fahrers des Linienbusses i.S.d. § 3 Nr. 1 PflVG nicht in Betracht kommt.
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4. Nach alledem waren sowohl die Leistungsanträge wie auch der gestellte Feststellungsantrag mangels Bestehens entsprechender Ansprüche abzuweisen.
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5. Der Kostenausspruch folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO, der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit aus 708 Nr. 11, 713 ZPO.