LG Lübeck, Urteil vom 14.02.2007 – 4 O 157/06
Ein Busfahrer ist nur dann zur Beobachtung eines Fahrgastes verpflichtet, wenn sich ihm dessen körperliche Behinderung – beispielsweise bei Amputationen von Armen oder Beinen, Krücken oder Blindheit – aufdrängt (Rn.13).
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
1) Die Klage wird abgewiesen.
2) Die Kosten des Rechtsstreits werden der Klägerin auferlegt
3) Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
Tatbestand
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Die Klägerin verlangt aus übergeleitetem Recht restlichen Schadensersatz aus einem Ereignis, das sich am 21.01.2005 in einem von der Beklagten betriebenen Bus ereignete. Am Schadenstag stürzte der zum Unfallzeitpunkt 87 Jahre alte Zeuge M., der bei der Klägerin gesetzlich krankenversichert ist, in einem Bus der Linie 15. Er stieg am vorderen Eingang ein und zeigte dem Zeugen …, der den Omnibus führte, seinen Schwerbehindertenausweis vor. Dabei erlitt er eine periprothetische Oberschenkelfraktur auf der rechten Seite. Durch die Versorgung der Verletzung und die folgende Behandlung entstand ein Schaden in Höhe von insgesamt 12.033,61 Euro. Diese Summe ist zwischen den Parteien unstreitig geblieben. Vorprozessual hat die Beklagte auf einer Basis von 50 % reguliert und 6.016,81 Euro an die Klägerin gezahlt.
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Der Zeuge M. war zum Unfallzeitpunkt zu 100 % schwerbehindert und trug das Merkzeichen „G“ in seinem Schwerbehindertenausweis.
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Die Klägerin behauptet, der Fahrer des Busses, der Zeuge G., habe sowohl anhand des äußeren Erscheinungsbildes wie auch anhand des Schwerbehindertenausweises erkennen können und auch müssen, dass der Zeuge M. hilfebedürftig gewesen sei. Gleichwohl habe er nicht abgewartet, bis der Zeuge sich festen Halt verschafft habe, sondern sei sofort „zügig“ angefahren.
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Die Klägerin beantragt,
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die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin weitere 6.016,80 Euro nebst Verzugszinsen hierauf in Höhe von p. A. 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab dem 30.05.2006 zu zahlen.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Die Beklagte behauptet, der Zeuge G. sei mit dem Bus langsam angefahren. Der Zeuge M. sei erst nach dem Anfahren des Busses gestürzt. Der Unfall gehe nicht auf einen Fehler des Busfahrers zurück, sondern vielmehr darauf, dass der Zeuge M. zunächst „umständlich“ seinen Schwerbehindertenausweis verstaut habe, bevor er sich hingesetzt habe. Er habe sich auch nicht in anderer Weise ausreichend Halt verschafft. Dazu sei er aber nach den Beförderungsbedingungen der Beklagten verpflichtet. Im übrigen sei für den Zeugen G. nicht zu erkennen gewesen, dass der Zeuge M. besonders hilfsbedürftig gewesen sei.
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Das Gericht hat Beweis erhoben gemäß prozessleitender Verfügung vom 22.09.2006 durch Vernehmung der Zeugen M. und G.. Bezüglich des Beweisergebnisses wird auf das Protokoll vom 10.01.2007 (Bl. 102 der Akte) verwiesen.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage ist nicht begründet.
I.
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Die Klage ist zulässig.
II.
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Die Klage ist nicht begründet. Die Klägerin kann weder aus § 280 Abs. 1 BGB (dazu unter 1.) noch aus den §§ 7, 8a StVG (dazu unter 2.) – jeweils in Verbindung mit § 116 SGB X – Schadensersatzansprüche herleiten.
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1. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Schadensersatzanspruch aus § 280 Abs. 1 BGB in Verbindung mit § 116 SGB X. Nach dieser Vorschrift muss derjenige Schadensersatz leisten, der eine Pflicht aus einem Schuldverhältnis verletzt. Nach der Beweisaufnahme steht jedoch fest, dass die Beklagte keine vertragliche Pflicht verletzt hat. Der Zeuge G. – dessen Verhalten der Beklagten ggf. über § 278 BGB zugerechnet wird – hat sich nicht pflichtwidrig verhalten, indem er sich nicht vergewissert hat, dass der Zeuge M. einen festen Halt gefunden oder sich hingesetzt hat. Der Umfang der einen Busfahrer treffenden Pflichten, umfasst regelmäßig nicht die Beobachtung der Fahrgäste (so schon BGH MDR 1972, 226 = VersR 1972, 152). Danach ist ein Fahrgast im Großraumwagen einer Straßenbahn oder in einem Bus sich selbst überlassen (so auch BGH NJW 1993, 645; LG Halle/Saale VersR 2005, 1447; LG Köln VRS 1999, 30 und OLG Köln, Schaden-Praxis 1999, 227). Eine Ausnahme besteht nur in den Fällen, in denen es sich dem Busfahrer aufdrängt, dass eine körperliche Behinderung des Fahrgastes besteht. Beispiele dafür sind Amputationen von Armen oder Beinen, Krücken oder Blindheit. Allein die Tatsache, dass der Fahrgast einen Schwerbehindertenausweis bei sich führt und möglicherweise auch dem Fahrer präsentiert, da er von dem Fahrgeld befreit ist, führt nicht dazu, dass sich eine besondere Hilfsbedürftigkeit dem Fahrer „aufdrängen“ muss. Daher Dabei konnte auch offen bleiben, ob der Zeuge G. das auf der Rückseite des Ausweises angebrachte Merkzeichen „G“ zur Kenntnis genommen hat.
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Die Klägerin hat nicht bewiesen, dass sich aufgrund der äußeren Umstände dem Zeugen G. eine besondere Hilfsbedürftigkeit des Zeugen M. „aufdrängen“ musste. Dies ergibt sich bereits aus der Aussage des Zeugen M., der bekundet hatte, zum Zeitpunkt des Unfalles habe er aufgrund seiner Hüftoperation „laufen können wie früher“. Wörtlich sagte der Zeuge „Es war ja alles prima operiert“ (Bl. 105 der Akte) und „ich war topfit und im Kopf war auch alles in Ordnung“ (Bl. 106 der Akte). Entsprechendes ergibt sich auch aus der Aussage des Zeugen G. der bekundet habe, es sei für ihn nicht zu erkennen gewesen, dass der Zeuge M. nicht für seine eigene Sicherheit würde sorgen können. Wörtlich sagte der Zeuge G. „Ich muss sagen, wenn ich ihn jetzt hier sehe, ist er ganz schön eingeknickt. Ich habe auch erst erfahren wie alt er ist, 88 Jahre. Da muss ich sagen: ‚Hut ab!‘. Er hat sich damals ganz normal bewegt“.
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Diese Aussage des Zeugen G. ist auch glaubhaft. Der Zeuge machte seine Aussage in gleichbleibend freundlichem Ton; Brüche in der Struktur der Aussage oder in seinem Aussageverhalten, die darauf hindeuten würden, dass der Zeuge nicht die Wahrheit sagen kann oder will, waren nicht zu erkennen. Im Gegenteil waren seine Bekundungen geprägt von dem Bemühen, möglichst genau die Situation zu schildern und andererseits von Empathie für den Zeugen M.
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2. Die Klägerin hat gegen die Beklagte keinen Anspruch auf Schadensersatz aus den §§ 7 und 8a StVG in Verbindung mit § 116 SGB X. Nach diesen Vorschriften ist der Betreiber eines Kraftfahrzeuges zum Schadensersatz verpflichtet, wenn beim Betrieb der Körper oder die Gesundheit eines Menschen verletzt wird. Zwar liegen die Voraussetzungen dieser Vorschrift vor (dazu unten a)), doch tritt die Betriebsgefahr des Busses der Beklagten aufgrund eines Mitverschuldens des Zeugen M. vollständig zurück (dazu unten b)).
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a) Dass sich der Verkehrsunfall „beim Betrieb“ von Kraftfahrzeugen im Sinne des § 7 Abs. 1 StVG ereignete, bedarf keiner näheren Darlegung. Der Schaden wurde auch nicht durch „höhere Gewalt“ im Sinne des § 7 Abs. 2 verursacht. „Höhere Gewalt“ in diesem Sinne liegt immer dann nicht vor, wenn sich der Schaden gleichsam aus dem Straßenverkehr heraus ereignet (vgl. zum Begriff Freyberger, MDR 2002, 807; Garbe/Hagedorn JuS 2004, 287, 289 m.w.N.).
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b) Es ist jedoch im Rahmen der nach den §§ 9 StVG und 254 BGB erforderlichen Abwägung der Verschuldensanteile ein überwiegendes Mitverschulden zu Lasten der Klägerin zu berücksichtigen. Die Klägerin macht einen nach § 116 SGB X übergegangenen Anspruch geltend. Daher ist für die Frage des Mitverschuldens im Sinne der §§ 9 StVG und 254 BGB auf die Person des Zeugen M. abzustellen. Den Zeugen M. trifft ein überwiegendes Mitverschulden. Kommt ein Fahrgast bei normaler Anfahrt eines Linienbusses zu Fall, so spricht der Beweis des ersten Anscheins dafür, dass der Sturz auf mangelnde Vorsicht des Fahrgastes zurückzuführen ist (vgl. OLG Koblenz, VRS 99, 247). Diesen Beweis des ersten Anscheins hat die Klägerin nicht entkräften können. Die Aussage des Zeugen M. zum zeitlichen Ablauf des Geschehens ist in sich widersprüchlich und wenig verständlich. Zunächst sagte der Zeuge „Ich zeige meinen Ausweis und da will ich gerade nach der Stange greifen, da gibt es einen Ruck und ich liege auf dem Rücken“ (Bl. 103 der Akte), was so verstanden werden muss, dass sich der Sturz vorne beim Fahrer ereignet hat. Auf weitere Nachfrage hatte der Zeuge jedoch dann gesagt, er sei etwa einen Meter in den Bus hineingegangen, habe sich dort an der ersten Stange festhalten wollen (Bl. 104 der Akte unten). Schließlich bekundete er „Ich habe einen Schritt rückwärts gemacht, dann drehe ich mich um und will mich festhalten, da bin ich auch schon hingefallen (Bl. 105 der Akte unten). Während der Beweisaufnahme ist deutlich geworden, dass der Zeuge damit überfordert ist, die Reihenfolge der Ereignisse – die sich sehr schnell abgespielt haben – zu rekonstruieren. Auf Fragen nach der Reihenfolge reagiert er entnervt und erklärt, er wisse ja nicht was „der ganze Zirkus hier“ solle. Daher ist seine Aussage zur Frage, ob der Sturz auf eine mangelnde Sicherung oder ein zu schnelles und ruckartiges Anfahren des Busses zurück geht unergiebig.
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Auf der Grundlage der Aussage des Zeugen G. ist das Gericht davon überzeugt, dass sich der Sturz bei der zweiten, hinteren, Tür des Busses ereignet hat. Entsprechendes hatte der Zeuge G. bekundet. Wegen seiner Glaubwürdigkeit kann auf die vorstehenden Ausführungen verwiesen werden. Die Aussage deckt sich darüber hinaus mit der Bekundung des Zeugen M., er habe bis zum ersten freien Platz durchgehen wollen.
III.
20
Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91 und 709 ZPO.