Landgericht Düsseldorf, Urteil vom 06.10.2009 – 2b O 212/08
Radfahrer dürfen im Winter auf Bestreuung eines für den Fahrradverkehr freigegebenen Gehwegs vertrauen
Tenor:
Die Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 1.962,86 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 03.05.2008 zu zahlen und ihn von außergerichtliche Rechtsanwaltskosten in Höhe von 229,55 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 08.11.2008 freizustellen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits tragen der Kläger 36 % und die Beklagte 64 %.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar, für den Kläger jedoch nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages. Der Kläger kann die Vollstreckung durch die Beklagte durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von der beklagten Stadt Schadensersatz im Zusammenhang mit einem Glatteisunfall vom 31.01.2008.
Am Morgen des Unfalltages herrschte in Kaarst eine allgemeine Straßenglätte. Der Kläger, Vater von drei schulpflichtigen Kindern, näherte sich auf seinem Weg zur Arbeit gegen 7.50 Uhr mit seinem Fahrrad aus westlicher Richtung kommend dem S-vorplatz in Kaarst, nachdem er bereits zwei bis drei Kilometer über eine Straße gefahren war und hierbei Glätte festgestellt hatte. An der westlichen Zufahrt zu dem S-vorplatz befindet sich das Zeichen 242 (Beginn eines Fußgängerbereichs) mit einem Zusatzschild „Radfahrer frei“. In Höhe des Haupteinganges der S-arkaden rutschte das Hinterrad des Klägers nach links weg und er stürzte. Ursache für den Sturz war, dass der Bodenbelag infolge der Witterungsverhältnisse vereist und glatt war. Der Unfallbereich war nicht abgestreut, während auf den parallel zu dem von dem Kläger genommenen Weg am S-vorplatz vorbeiführenden Straßen gestreut worden war. Die über den S-platz zu erreichenden Geschäfte öffnen zwischen 6.00 Uhr und 7.00 Uhr.
Infolge des Sturzes zog sich der Kläger einen Schlüsselbeinbruch und Prellungen zu. Er trug in der Zeit vom 31.01.2008 bis zum 29.02.2008 einen Desault-Verband. Der ihn behandelnde Arzt bescheinigte Arbeitsunfähigkeit während des Zeitraums 31.01.2008 bis zum 07.03.2008.
Der Kläger begehrt die Zahlung von Schmerzensgeld in Höhe von mindestens 2.000,00 EUR, den Ersatz eines Haushaltsführungsschadens von 1.000,00 EUR und von Kosten für die Erstellung eines ärztlichen Attestes in Höhe von 35,00 EUR sowie eine Kostenpauschale in Höhe von 25,00 EUR.
Der Kläger behauptet:
Die Vereisung und Eisglätte des Bodenbelags auf dem S-vorplatz vor den S-arkaden seien für ihn weder erkennbar noch vorhersehbar gewesen.
Infolge der unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit und der besonderen Einschränkungen durch den Desault-Verband habe er 5 Wochen lang seinen Pflichten zum Arbeitsanteil am Familienhaushalt nicht nachkommen können und sei selbst zusätzlich zur Verrichtung der Tätigkeiten des täglichen Lebens auf Hilfe Dritter angewiesen gewesen.
Der Kläger beantragt,
1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 3.060,00 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 03.05.2008 zu zahlen;
2. die Beklagte zu verurteilen, ihn von außergerichtlichen Rechtsanwaltskosten in Höhe von 359,50 EUR nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 08.11.2008 freizustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie trägt im Wesentlichen vor:
Der abgestreute Bereich sei für die Verkehrsteilnehmer bei entsprechender Aufmerksamkeit erkennbar gewesen, weil mit einem Gemisch aus Salz und Granulat gestreut worden sei.
Dem Kläger hätte ein gefahrloser Weg über die parallel verlaufenden Straßen zur Verfügung gestanden. Er habe nicht darauf vertrauen können, dass der S-vorplatz in seiner ganzen Ausdehnung für den Fahrradverkehr gestreut sein würde. Der S-vorplatz sei für Radfahrer weder verkehrswichtig noch handele es sich um eine für den Fahrradverkehr gefährliche Stelle. Eine Streupflicht habe allein zugunsten der Fußgänger bestanden.
Der Schmerzensgeldanspruch des Klägers sei überhöht. Er habe mit seiner Verletzung keinen Totalausfall im Haushalt dargestellt. Seine Leitungsfunktion für den Haushalt sei nicht aufgehoben gewesen.
Wegen des beiderseitigen Vorbringens im Übrigen wird auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst Anlagen Bezug genommen.
Das Gericht hat Beweis erhoben durch Vernehmung der Ehefrau des Klägers zum behaupteten Haushaltsführungsschadens gemäß Beweisbeschluss vom 25.08.2009 (Bl. 53 d.A.). Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom selben Tag (Bl. 52ff. d.A.) Bezug genommen.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
I. Der Kläger hat einen Schadensersatzanspruch wegen der Verletzung der Verkehrssicherungspflicht in Form der Streupflicht gegen die beklagte Stadt aus § 839 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Artikel 34 GG für 1. materielle Schäden und 2. wegen Schmerzensgeld.
Die beklagte Stadt hat, indem sie den Gehwegbereich vor den S-arkaden unstreitig nicht gestreut hat, den ihr gemäß § 1 Abs. 2 StrReinG NRW obliegenden Winterdienst pflichtwidrig nicht erbracht. Inhalt und Umfang der winterlichen Räum- und Streupflicht auf öffentlichen Straßen richten sich nach den Umständen des Einzelfalls. Art und Wichtigkeit des Verkehrsweges sind damit ebenso zu berücksichtigen wie seine Gefährlichkeit und Stärke des zu erwartenden Verkehrs. Die Räum- und Streupflicht besteht damit nicht uneingeschränkt. Sie steht vielmehr unter dem Vorbehalt des Zumutbaren, wobei es auch auf die Leistungsfähigkeit des Pflichtigen ankommt. Grundsätzlich muss sich der Verkehr auch im Winter den gegebenen Straßen- und Wegeverhältnisse anpassen und sich auf die besondere Lage, die beim Auftreten von Winterglätte gegeben ist, einstellen (st. Rspr. des BGH, vgl. nur BGH NJW 1991, 33 und 1993, 283). Zum Schutz des Fußgängers sind an die Streupflicht jedoch strenge Anforderungen zu stellen. Daher gilt der Grundsatz, dass die wichtigen Gehwege innerhalb geschlossener Ortschaft bei winterlicher Glätte zu bestreuen und zu räumen sind. Nur tatsächlich entbehrliche Gehwege, für die ein echtes, jederzeit zu befriedigendes Verkehrsbedürfnis nicht besteht, brauchen dagegen nicht bestreut werden (BGH VersR 1993, 1285).
Auf den streitgegenständlichen Unfallbereich sind die von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze, die zum Schutz von Fußgängern für Gehwege im innerstädtischen Verkehr gelten, anzuwenden. Denn der Unfall ereignete sich im Gehwegbereich. Dieser Bereich weist lediglich die Besonderheit auf, dass er für den Fahrradverkehr ebenfalls zugelassen ist. Als Fußgängerbereich hätte die Unfallstelle bei ordnungsgemäßer Erfüllung der Streupflicht bestreut sein müssen. Hierauf kann sich auch der Kläger als Radfahrer berufen. Denn er war, da Radfahrer zugelassen waren, berechtigt, diesen Weg mit seinem Fahrrad zu befahren. In Anlehnung an die Entscheidung des BGH zum kombinierten Fuß- und Radweg mit dem Zeichen 240 der StVO (BGH vom 09.10.2003, III ZR 8/03) durfte sich der Kläger als Radfahrer gleichermaßen auf die Erfüllung der Räum- und Streupflicht durch die beklagte Stadt verlassen, auch wenn sie darauf begründet war, dass der Weg ein Gehweg ist. Es macht aus Sicht des erkennenden Gerichts keinen Unterschied, ob – wie in dem der v.g. Entscheidung des BGH zugrunde liegenden Streitfall – Radfahrer den Sonderweg nutzen müssen, ihnen also bei Erfüllung der Räum- und Streupflicht durch den Sicherungspflichtigen kein Ausweichen auf die für den Kraftfahrzeugverkehr bestimmte Fahrbahn gestattet ist, oder ob sie lediglich berechtigt sind, den Weg zu nutzen, in gleicher Weise aber auch die Fahrbahn befahren dürften. Entscheidend ist vielmehr, dass die Sicherungspflichtige eine grundsätzliche Pflicht zur Räumung dieses Bereiches aufgrund der Nutzung als Gehweg trifft, an solche Wege daher die Erwartung getroffen werden, diese seien bei winterlichen Witterungsverhältnissen entsprechend den Bedürfnissen von Fußgängern ordnungsgemäß geräumt oder bestreut. Es ist nicht einsichtig, warum bei gemeinsamer zulässiger Nutzung Radfahrer nicht erwarten dürfen, der Weg sei als Gehweg für die Nutzung durch Fußgänger entsprechend bestreut worden.
Dagegen spricht auch nicht, dass der Kläger die parallel verlaufende Straße befahren durfte. Gerade bei stellenweiser Glätte kann ein Sturz für einen Radfahrer auf der Fahrbahn wegen des dort herrschenden Verkehrs fatalere Folgen haben als auf einem Gehweg, so dass u.U. sogar vernünftige Gründe dafür sprechen, den für Radfahrer zulässigen Gehweg zu benutzen.
Damit hat die beklagte Stadt ihre auch gegenüber dem Kläger bestehende Räum- und Streupflicht verletzt.
Der Sturz des Klägers ist unstreitig auf das am Unfallort vorhandene Glatteis zurückzuführen. Ein Mitverschulden (§ 254 BGB) ist dem Kläger nicht anzulasten. Der persönlich angehörte Kläger hat plausibel ausgeführt, dass er die Glätte infolge der hellen Platten nicht habe erkennen können. Konnte er aber die für ihn bestehende Gefahr nicht erkennen, kann auch nicht verlangt werden, dass er Vorsichtsmaßnahmen wie etwa in Form des Absteigens von seinem Fahrrad oder Befahren der Straße hätte ergreifen müssen. Zu berücksichtigen ist dabei auch, dass der Kläger auf seinem Weg bis zum S-vorplatz, der über eine Straße führte, Glätte festgestellt hatte. Vor diesem Hintergrund stellt sich der Weg in dem für Radfahrer freigegebenen Fußgängerbereich als weniger gefährlich dar, weil dort der Kläger nicht Gefahr lief, im Falle eines Sturzes mit einem Fahrzeug zusammenzustoßen.
Im Einzelnen stehen dem Kläger folgende Ansprüche zu:
1. Haushaltsführungsschaden:
Gemäß § 843 Abs. 1 BGB hat die beklagte Stadt einen Haushaltsführungsschaden des Klägers in Höhe von 402,86 EUR zu ersetzen. Nach der v.g. Vorschrift ist dem Verletzten durch Entrichtung einer Geldrente Schadensersatz zu leisten, wenn infolge einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit die Erwerbsfähigkeit des Verletzten aufgehoben oder gemindert ist oder eine Vermehrung seiner Bedürfnisse eintritt. Ausgangspunkt aller Überlegungen betreffend einen Schadensersatzanspruch nach § 843 Abs. 1 BGB ist ein Vergleich des Zuschnitts der Arbeitsaufteilung im Haushalt vor dem Unfall mit der Sachlage, die sich in Folge der Verletzung nach dem Unfall ergeben hat.
Der zu ersetzende Haushaltsführungsschaden des Klägers ergibt sich aus seiner Ausfallzeit vom 31.01.2008 bis zum 29.02.2008, also insgesamt 1 Monat, bei einem wöchentlichen Ansatz von 11 Stunden, vergütet nach BAT IXb. Nach den aktuellen Vergütungstabellen ergibt sich bei einem Lebensalter von 48 Jahren eine Grundvergütung von 1.219,93 EUR zuzüglich eines Ortszuschlages von 846,74 EUR, mithin eine Bruttovergütung von 2.066,67 EUR. Da eine Ersatzkraft nicht eingestellt wurde, ist von einer Nettovergütung auszugehen, die auf 30 % der Bruttovergütung geschätzt wird (§ 287 ZPO). Arbeitgeberanteile zur Sozialversicherung sind mangels tatsächlicher Beauftragung einer Ersatzkraft ebenfalls nicht hinzuzurechnen. Für 11 Stunden/Woche errechnet sich ein Wert für die entgangene Arbeitsleistung im Haushalt von 402,86 EUR (2.066,67 EUR x 70 % x 11/39,5).
Dass der Kläger tatsächlich in der Zeit vom 31.01.2008 bis zum 29.02.2008 nicht in der Lage gewesen ist, Tätigkeiten im Haushalt zu verrichten, steht zur Überzeugung des Gerichts fest aufgrund der Aussage der Zeugin I. Diese hat glaubhaft ausgeführt, dass der Kläger während der Zeit, in der er einen Desault-Verband getragen habe, keine Hausarbeiten habe machen können. Im Hinblick auf den Sinn und Zweck eines Desault-Verbandes, Arm und Schulter zur Ruhigstellung des Schultergelenkes mit einem festen Verband zu fixieren, ist auch plausibel, dass die Bewegungsfähigkeit in den Maßen eingeschränkt war, dass Arbeiten des täglichen Lebens nicht erledigt werden konnten. Entgegen der Behauptung des Klägers dauerte dieser Zustand jedoch keine 5 Wochen an, sondern endete nach Aussage der Zeugin I mit der Abnahme des Verbandes. Ausweislich des vorgelegten ärztlichen Attestes (Anlage K 4, Bl. 9 d.A.) trug der Kläger den Desault-Verband vom 31.01.2008 bis zum 29.02.2008.
Das Gericht ist von den behaupteten 11 Stunden wöchentliche Haushaltstätigkeit ausgegangen, da die Zeugin I überzeugend geschildert hat, dass sich der Kläger vor dem Unfall morgens um die schulpflichtigen Kinder gekümmert habe, er dafür Sorge getragen habe, dass abends die Kinder zu Bett gingen sowie ihr Mann an den Wochenenden die Einkäufe erledigt habe. Unbeschadet der sonstigen von der Zeugin geschilderten Hausarbeiten (Wäsche aufhängen, Besorgungen erledigen etc.) rechtfertigen die regelmäßigen Aufgaben, die der Kläger übernommen hatte, bereits einen Ansatz von 1,5 bis 2 Stunden täglich, so dass die von dem Kläger in Ansatz gebrachten 11 Stunden nachvollziehbar sind.
2. Schmerzensgeld:
Für die physische Beeinträchtigung durch den Schlüsselbeinbruch und die Prellungen hält das Gericht gemäß § 253 Abs. 2 BGB ein Schmerzensgeld von 1.500,00 EUR für angemessen. Dabei wurde auch berücksichtigt, dass der Kläger während eines Zeitraums von etwa 1 Monat arbeitsunfähig war und nicht zuletzt wegen des Desault-Verbandes in der Verrichtung von Tätigkeiten des täglichen Lebens stark eingeschränkt war (s.o.). Da der Kläger zu dem Umfang der ärztlichen Behandlung, zu etwaigen Folgeschäden oder begleitenden Erkrankungen nichts vorgetragen hat, hält das Gericht ein Schmerzensgeld in der zuerkannten Höhe für den Ausgleich der vorgetragenen Beeinträchtigungen für ausreichend.
3. Kosten der Rechtsverfolgung:
Die beklagte Stadt hat dem Kläger ferner die Kosten für das ärztliche Attest in Höhe von 35,00 EUR, eine Auslagenpauschale von 25,00 EUR sowie außergerichtliche Anwaltskosten, berechnet von einem Gegenstandswert bis 2.000 EUR, zu erstatten. Es handelt sich insoweit um Kosten der Rechtsverfolgung, die der Kläger auch für erforderlich halten durfte.
4. Zinsen:
Der Zinsanspruch beruht auf §§ 286 Abs. 1, 288 Abs. 1, 291 BGB. Die Beklagte ist mit Ablauf der ihr gesetzten Frist bis zum 02.05.2008 zur Regulierung des ihr bezifferten Schadens in Verzug geraten (§ 286 Abs. 1 Satz 1 BGB).
II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 92 Abs. 1 ZPO, die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit aus §§ 708 Nr. 11, 709, 711 ZPO.