OLG München, Urteil vom 17.12.2010 – 10 U 2926/10
Der Fahrzeugführer, der bemerkt, dass ein für den Fahrgastwechsel haltender Linienbus, den er passiert, wieder anfährt, darf nicht zu einem den Fahrtweg des Busses kreuzenden Fahrstreifenwechsel ansetzen
Tenor
1. Die Berufung des Klägers vom 12.05.2010 gegen das Endurteil des LG München I vom 01.02.2010 (Az. 19 O 4727/09) wird zurückgewiesen.
2. Der Kläger trägt die Kosten des Berufungsverfahrens.
3. Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
A. Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§§ 540 II, 313 a I 1 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO).
Entscheidungsgründe
B. Die statthafte sowie form- und fristgerecht eingelegte und begründete, somit zulässige Berufung hat in der Sache keinen Erfolg.
I. Das Landgericht hat zu Recht einen Anspruch des Klägers auf Schadensersatz aus dem Verkehrsunfall vom 17.04.2008 auf der Baubergerstraße in München verneint.
Zu Recht ist das Landgericht davon ausgegangen, dass der Kläger versucht hat, vor dem fahrenden Bus den Fahrstreifen zu wechseln und er deshalb den Pflichten des § 7 V StVO genügen musste. Dabei hatte er die Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs auszuschließen. Steht wie hier die Kollision in einem unmittelbaren zeitlichen und örtlichen Zusammenhang mit dem Spurwechsel, so spricht der Anscheinsbeweis für die Missachtung der Sorgfaltspflichten, die für den Spurwechsler gelten (vgl. OLG Bremen, VersR 1997, 253; KG, NZV 2004, 28). Da der Kläger diesen Anschein nicht widerlegt hat, ist wegen der hohen Sorgfaltsanforderungen des § 7 V StVO von der vollen Haftung des Klägers auszugehen (vgl. OLG Frankfurt, OLGR 1998, 21), weshalb die Klage zu Recht abgewiesen wurde. Eine etwaige Haftung der Beklagten zu 1) aus Betriebsgefahr tritt hinter dem grob fahrlässigen Verkehrsverstoß des Klägers zurück.
Dabei ist darauf hinzuweisen, dass grundsätzlich die Vorschrift des § 7 V StVO den vom Straßenrand Anfahrenden nicht schützt, da insoweit die Vorschrift des § 10 StVO vorgeht (vgl. KG, NZV 2006, 369, 370). Auch hatte der Beklagte zu 2) § 10 StVO prinzipiell zu beachten, da er in den Genuss der Erleichterungen des § 20 V StVO nur dann gekommen wäre, wenn er das Anfahren durch Betätigen des linken Fahrtrichtungsanzeigers angezeigt hätte. Davon kann hier jedoch nicht ausgegangen werden, da der Kläger ein Blinken des Busses verneint hat und die Beklagten das nicht bestritten haben.
Hier liegt jedoch insoweit ein besonderer Fall vor:
Nach der vor dem Senat durchgeführten Beweisaufnahme ist davon auszugehen, dass der Beklagte zu 2) an der Haltestelle etwa mittig angehalten hat, wie er selbst auf Frage zur Überzeugung des Senats angegeben hat. Der Kläger hat durch seinen Prozessbevollmächtigten (anlässlich der Anhörung des Beklagten zu 2) noch) beigepflichtet, dass das bei einem MVG-Bus der Normalfall sein dürfte. Da die Sachverständige, deren überragende Fachkunde dem Senat auf Grund einer Vielzahl von Verfahren bekannt ist, mithilfe der von den Beklagten erstmalig in zweiter Instanz vorgelegten Lichtbildern ermitteln konnte, wo sich die Kollisionsstelle der Fahrzeuge befindet – insoweit hat der Kläger auch keine Einwände erhoben – ergab sich aus der nun feststehenden Halteposition sowie Kollisionsstelle eine vom Bus zurückgelegte Wegdifferenz von 9 bis 10 Metern. Diese Strecke lässt sich zwanglos in Übereinstimmung bringen mit der von der Sachverständigen erläuterten Strecke von 1,5 bis 8 Metern, die der Bus je nach Beschleunigung braucht, um die Kollisionsgeschwindigkeit, die im Bereich von 5 bis 10 km/h lag, erreichen zu können.
Der Kläger hat in der Berufungsbegründung angegeben, er sei vorher (in der Annäherung) unter 50 km/h gefahren und am Bus vorbei vorsichtig sehr langsam auf die rechte Spur geschwenkt. Dies wurde damit begründet, dass der Kläger seinen Pflichten aus § 20 I StVO genügen wollte. Auf Frage des Senats hat der Kläger über seinen Prozessbevollmächtigten in der letzten mündlichen Verhandlung vorgetragen, er habe im Heranfahren verzögert durch Gaswegnehmen. Der Bus seinerseits hat allenfalls eine Geschwindigkeit von 10 km/h erreicht, da dies die maximale Kollisionsgeschwindigkeit des Busses nach Angaben der Sachverständigen war und der Beklagte zu 2) auf Frage unwidersprochen und glaubhaft erklärte, er habe vor der Kollision nicht gebremst. Bei Beachtung der vorstehenden Parameter ergab sich nun aus den überzeugenden Erläuterungen der Sachverständigen, dass der Kläger bereits vor seinem Entschluss, den Fahrstreifen zu wechseln, für den er etwa 5 Sekunden benötigte, erkennen hat können, dass der Bus von der Haltestelle wieder losgefahren war. Dabei ist maßgeblich, dass es sich bei dem Linienbus der Beklagten zu 1) um einen 18 Meter langen Gliederbus gehandelt hat und nach den Angaben der Sachverständigen anhand der dahinterliegenden Häuser und Geschäfte eine Anfahrt des Busses unschwer zu erkennen war.
Weiter ist zu beachten, dass an der Unfallstelle 2 Fahrspuren in einer Richtung angelegt waren. Die vom Bus verwendete Spur war eine Geradeausspur, die vom klägerischen Taxi verwendete Spur war eine Linksabbiegerspur (wegen Baustelle gelb markiert, vgl. Bild 18 der Lichtbildmappe der Sachverständigen). Zusätzlich ist zu beachten, dass sich die Unfallstelle etwa 10 Meter (gemessen in google-earth) von der Haltelinie zur kreuzenden Dachauer Straße entfernt befindet (siehe auch Lichtbild 18).
Der Senat ist nun der Auffassung, dass es sich bei dem Fahrmanöver des Klägers bereits um einen „bloßen“ Fahrstreifenwechsel gehandelt hat und der Anfahrvorgang des Busses nicht mehr kausal für die Kollision der beiden Fahrzeuge wurde. Abgesehen davon, dass es schon der Lebenserfahrung entspricht, dass ein an einer Haltestelle wartender Bus nach dem Fahrgastwechsel alsbald wieder losfährt (vgl. BGH VRS 11, 246), durfte der Kläger nicht mehr zu einem Fahrstreifenwechsel ansetzen, wenn er schon bemerkt haben musste, dass der Bus wieder losgefahren war. Die gefahrene Fahrtstrecke des Busses ist zwar objektiv nicht sehr lange. Entscheidend ist jedoch, dass der Bus für diese Fahrtstrecke 5 Sekunden benötigte und das Geschwindigkeitsniveau insgesamt sehr niedrig war. Denn auch der Kläger ist nach seinen eigenen Angaben sehr langsam und vorsichtig nach rechts gezogen. Die vom Kläger angegebene Begründung für diese langsame Fahrt überzeugt jedoch nicht. 9 Meter nach der Haltestelle musste der Kläger nicht so langsam fahren, um aussteigende und die Straße überquerende Fahrgäste nicht zu gefährden. Tatsächlich einzig überzeugender Grund für die langsame Fahrt sowohl des Klägers wie des vom Beklagten zu 2) gesteuerten Busses war alleine das verkehrsbedingt wegen der nahenden ampelgeregelten Kreuzung niedrige Geschwindigkeitsniveau. In diesem besonderen Fall war der Bus deshalb bereits nach 9 bis 10 Metern in den (langsam) fließenden Verkehr integriert.
Die Tatsache, dass der Beklagte zu 2) vor dem Losfahren entgegen § 10 S. 2 StVO keinen Fahrtrichtungsanzeiger gesetzt hat, war hier für die Entstehung des Unfalls nicht kausal. Zweck der Vorschrift ist, dass sich der fließende Verkehr darauf einstellen kann, dass ein Fahrzeug beabsichtigt loszufahren. Im Fall des Linienbusses zwingt es den nachfolgenden Verkehr sogar, dem Bus Vorrang einzuräumen. Hier jedoch wurde die Entscheidung, den Fahrstreifen zu wechseln, wie oben dargestellt, zu einem Zeitpunkt gefällt, zu dem sich der Bus bereits wieder in Bewegung gesetzt hatte. Ein Zusammenhang zwischen fehlenden Blinken und Kollision kann jedoch nur entstehen, wenn der „Überholvorgang“ im untechnischen Sinne zu einem Zeitpunkt vorgenommen wurde, an dem noch nicht geblinkt wurde und das Fahrzeug noch stand. Auch sind Konstellationen denkbar, in denen bei Überholvorgängen durch ein entgegenkommendes Fahrzeug eine Engstelle entsteht (vgl. den Fall in BGH, VRS 11, 246) oder der Ausparkende durch ein verdeckendes Fahrzeug nicht sichtbar ist (vgl. KG, NZV 2006, 369). Hier war der Bus jedoch weithin sichtbar. Auch hat der Kläger nicht vorgetragen, dass sich durch das Anfahren des Busses eine Engstelle gebildet hätte, etwa durch einen Rückstau auf der von ihm befahrenen Linksabbiegerspur. Da sich der Bus bereits in das (hier ungewöhnlich) niedrige Geschwindigkeitsniveau eingereiht hat, musste der ebenfalls langsam fahrende Kläger schlichtweg nur abbremsen, auch wenn er damit eine früher geglaubte „Überholmöglichkeit“ des Busses durch das Anfahren verloren hatte.
In dieser besonderen Ausgangssituation war für den Beklagten zu 2) nicht zu erkennen, dass trotz der kurzen Distanz zur Kreuzung und des niedrigen Geschwindigkeitsniveaus (auch der Bus hätte 5 km/h bereits nach 1,5 Metern erreichen können) er den auf der Linksabbiegerspur herankommenden Kläger gefährdet, wenn er auf seiner Spur langsam losfährt. Soweit die Rechtsprechung die Konstellation Überholer/Ausparker behandelt (vgl. BGH, VRS 11, 246; OLG Hamm VRS 31, 294) ist dies mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar. Soweit das Kammergericht im Leitsatz (vgl. KG, NZV 2006, 369) apodiktisch behauptet, der Anfahrende müsse immer damit rechnen, dass ein Teilnehmer des fließenden Verkehrs den Fahrstreifen wechselt, ist das jedenfalls nicht auf den Fall anzuwenden. Bei niedrigem Geschwindigkeitsniveau des fließenden Verkehrs auf der vom Anfahrenden benutzten Spur muss der Anfahrende nicht damit rechnen, dass ein auf der daneben liegenden Abbiegerspur Herankommender ohne Betätigung des Fahrtrichtungsanzeigers – dies behauptete der Kläger selbst nicht – zu einem Zeitpunkt noch herüberzieht, zu dem der Anfahrende bereits losgefahren war und keine weitere gefährliche Situation durch den Anfahrvorgang entstanden ist. Die Tatsache der Kollision auf diesem niedrigen Geschwindigkeitsniveau ist überhaupt nur dadurch zu erklären, dass der Kläger auf der „freien“ Linksabbiegerspur überholen wollte, um sich auf der langsamen Geradeausspur hineinzuzwängen, gibt es sonst für ein so knappes Einschermanöver, dass es zur Kollision kommen musste, keinen nachvollziehbaren Grund. Er hätte daher, wenn eine Beschleunigung, um ausreichenden Abstand zum Bus aufzubauen, aus verkehrstechnischen Gründen unmöglich war, abbremsen müssen, um sich hinter dem Bus einzureihen, wenn er – wie behauptet – geradeaus weiterfahren hätte wollen. Auch wenn die günstige „Überholmöglichkeit“ für den Kläger auf der Linksabbiegerspur, obwohl er geradeaus fahren wollte, durch das Losfahren des Busses zunichte gemacht wurde, musste der Beklagte zu 2) im Gegensatz zur Auffassung des Klägers nicht abstoppen, um dem Kläger das Einscheren zu ermöglichen, sondern der Kläger musste von einem Herüberziehen vor dem Bus Abstand nehmen. Dies gebietet dann § 7 V StVO.
Der Behauptung des Klägers, man könne dem Lichtbild 16 der im Termin übergebenen Lichtbildmappe der Sachverständigen entnehmen, dass der Bus noch nicht vollständig gerade gezogen war und sich daraus schließen lasse, dass deshalb der Bus bis zur Kollisionsstelle nicht 9, sondern nur 1,5 Meter gefahren sei, was (nach den Angaben der Sachverständigen, s.o.) auch gereicht hätte, die Kollisionsgeschwindigkeit zu erreichen, wurde von der Sachverständigen eine klare Absage erteilt. Dabei erläuterte die Sachverständige anhand des letzten in der Lichtbildmappe enthaltenen Bildes, dass die Frage der Ausrichtung des Linienbusses der Beklagten zu 1) in Relation zur Fahrtstrecke davon abhängt, in welchem Fahrmanöver der Busfahrer um eine an einer Straßeneinfahrt vor der Haltestelle befindlichen begrünten Verkehrsinsel herumgefahren ist. Falls der Beklagte zu 2), wie der Busfahrer auf dem Lichtbild in einem weiteren Abstand zum Bordstein, also relativ wenig verschwenkt an die Haltestelle angefahren war, konnte bei einer Weiterfahrt nach 9 Metern ohne weiteres noch ein Versatz, also eine nicht völlige Parallelität zur Fahrspur, vorhanden gewesen sein, wie dies auf Lichtbild 16 erkennbar ist. Da der Kläger für einen anderen Fahrvorgang des Busses beweispflichtig ist (s.o.), er aber einen ihm günstigeren Fahrvorgang des Busses nicht nachweisen konnte, bleibt es dabei, dass von einer gefahrenen Wegstrecke des Busses von mindestens 9 Metern auszugehen ist. Der Schluss des Klägers, dass aus der Schrägstellung des Busses in der Endposition auf eine geringe Wegstrecke von der Anfahrt bis zur Kollision geschlossen werden kann, wurde von der Sachverständigen als falsch bezeichnet. Dem schließt sich der Senat an.
II. Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 I ZPO.
III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 708 Nr. 10, 711, 713 ZPO i. Verb. m. § 26 Nr. 8 EGZPO.
IV. Die Revision war nicht zuzulassen. Gründe, die die Zulassung der Revision gem. § 543 II 1 ZPO rechtfertigen würden, sind nicht gegeben. Mit Rücksicht darauf, daß die Entscheidung einen Einzelfall betrifft, ohne von der höchst- oder obergerichtlichen Rechtsprechung abzuweichen, kommt der Rechtssache weder grundsätzliche Bedeutung zu noch erfordern die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts.