BGH, Urteil vom 10.10.1995 – VI ZR 219/94
Zu den Anforderungen an die elterliche Aufsichtspflicht bei einem geistig retardierten und schwer verhaltensgestörten Kind mit ausgeprägter Aggressionsbereitschaft.
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 11. April 1994 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil des Klägers in bezug auf die Beklagten zu 2 und 3 entschieden worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Die Parteien wohnen in der Einöde R., die aus ca. zwölf Häusern und ca. 40 Einwohnern besteht. Zwei Anwesen davon werden landwirtschaftlich genutzt.
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Am Nachmittag des 31. Mai 1991 gegen 15.30 Uhr begab sich der damals neun Jahre alte Beklagte zu 1, der eine Förderschule besuchte, auf das landwirtschaftliche Anwesen des Klägers. Nachdem er dort die Scheune durch das nicht verschlossene Tor betreten hatte, öffnete er einen Verschlag mit Küken und stieg mittels einer angelegten Leiter zum Heuboden. Er nahm ein mitgeführtes Feuerzeug, das er auf der Straße gefunden hatte, und entzündete von der Leiter dort gelagertes Stroh. Nach der Brandlegung rannte er aus der Scheune und fuhr mit seinem Fahrrad davon. Kindern, denen er unterwegs begegnete, rief er zu “ich bin es gewesen”.
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Die Scheune sowie ein daran angebauter Heuschuppen und eine weitere Scheune brannten vollständig ab. Das darin befindliche Inventar, bestehend aus Werkzeugen, Ernte- und Wirtschaftsgeräten wurde restlos zerstört.
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Die eigene Hausrats- und Feuerversicherung des Klägers leistete zum Teil Ersatz. Wegen des weitergehenden Schadens, der 100.000 DM übersteigen soll, besteht kein Versicherungsschutz.
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Mit der Klage verlangt der Kläger die Feststellung, daß die Beklagten ihm zum Ersatz des Brandschadens verpflichtet sind. Landgericht und Oberlandesgericht haben die Klage abgewiesen. Mit der Revision verfolgt der Kläger sein Klagebegehren gegen die Beklagten zu 2 und 3, die Eltern des Beklagten zu 1, wegen Verletzung ihrer Aufsichtspflicht weiter.
Entscheidungsgründe
I.
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Das Berufungsgericht hat dem Feststellungsantrag mit Recht mit der Erwägung für zulässig gehalten, daß es dem Kläger jedenfalls im maßgeblichen Zeitpunkt der Klageerhebung unter den konkreten Umständen des Falles nicht in zumutbarer Weise möglich war, den Schaden vollständig zu ermitteln und zu beziffern.
II.
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In der Sache selbst ist das Berufungsgericht der Auffassung, daß der zur Tatzeit geistig erheblich retardierte Beklagte zu 1 für den von ihm verursachten Brandschaden nicht verantwortlich gemacht werden könne, weil ihm bei der Tat die nach § 828 Abs. 2 BGB erforderliche Einsichtsfähigkeit gefehlt habe. Die Beklagten zu 2 und 3 hätten für den Schaden ebenfalls nicht einzustehen, da ihnen eine Verletzung ihrer Aufsichtspflicht nicht vorgeworfen werden könne. Der Beklagte zu 2 habe seinen Sohn wiederholt auf die Gefahren des Feuers hingewiesen und ihn darüber belehrt, daß er nicht zündeln solle. Entsprechende Belehrungen seien auch mehrfach und eindringlich in der Schule ausgesprochen worden. Auch habe der Beklagte zu 1 bis zur Tat keine Anzeichen für die Möglichkeit einer Brandlegung erkennen lassen.
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Ein Mangel an Aufsicht liege auch nicht darin, daß die Beklagten zu 2) ihrem Sohn gestattet hätten, eine halbe bis maximal eine Stunde zum Spielen das elterliche Haus zu verlassen; bei längerer Abwesenheit sei er zurückgeholt worden. Eine ständige Aufsicht sei auch bei Berücksichtigung der verminderten intellektuellen Fähigkeiten des Beklagten zu 1 nicht erforderlich gewesen; eine Aufsicht auf “Schritt und Tritt” könne den Aufsichtspflichtigen nicht zugemutet werden. Die Brandstiftung wäre nur dadurch zu verhindern gewesen, daß die Beklagten zu 2 und 3 ihren Sohn ständig eingesperrt oder dafür gesorgt hätten, daß er nur zusammen mit ihnen das Haus verlassen konnte; dies sei jedoch faktisch nicht durchsetzbar und lebensfremd.
III.
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Diese Ausführungen halten den Angriffen der Revision nicht stand. Die Revision rügt zu Recht, daß das Berufungsgericht an die Überwachungspflichten der Beklagten zu 2 und 3 zu geringe Anforderungen gestellt und das Ergebnis der Beweisaufnahme nicht ausreichend beachtet habe.
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1. Der Senat hat wiederholt ausgesprochen, daß an die Pflicht zur Aufsicht über Kinder sowohl hinsichtlich der Belehrung über die Gefahren des Feuers als auch der Überwachung eines möglichen Umgangs mit Zündmitteln strenge Anforderungen zu stellen sind (Urteile vom 17. Mai 1983 – VI ZR 263/81 – VersR 1983, 734; vom 10. Juli 1984 – VI ZR 273/82 – VersR 1984, 968, 969; vom 1. Juli 1986 – VI ZR 214/84 – VersR 1986, 1210, 1211; vom 29. Mai 1990 – VI ZR 205/89 – VersR 1990, 1123 – und vom 19. Januar 1993 – VI ZR 117/92 – VersR 1993, 485, 486). Dem liegt die Erfahrung zugrunde, daß durch Kinder nicht selten Brände mit erheblichen Schäden verursacht werden. Nach dem Grundgedanken des § 832 BGB soll dieses Risiko, das von Kindern für Dritte ausgeht, in erster Linie von den Eltern getragen werden, denen es eher zuzurechnen ist als dem außenstehenden Geschädigten und die als Sorgeberechtigte und Erziehungsverpflichtete auch die Möglichkeit zur gebotenen Einwirkung auf ihr Kind haben.
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Von diesen Grundsätzen geht an sich auch das Berufungsgericht aus. Es bedenkt in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats auch, daß bei Minderjährigen, die zu üblen Streichen oder zu Straftaten neigen, eine erhöhte Aufsicht geboten ist (Senatsurteil vom 27. November 1979 – VI ZR 98/78 – VersR 1980, 278, 279). Soweit das Berufungsgericht auf dieser Grundlage die Belehrungen des Beklagten zu 2 über die Gefahren des Feuers, auf die auch in der Schule mehrfach hingewiesen worden ist, für ausreichend erachtet, sind seine Ausführungen nicht zu beanstanden. Auch die Revision erhebt dagegen keine Einwendungen.
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2. Mit Recht rügt die Revision jedoch, daß das Berufungsgericht die Überwachung des Beklagten zu 1 durch seine Eltern, die ihm ein unbeaufsichtigtes Entfernen von ihrem Wohnanwesen für eine halbe bis eine Stunde gestatteten, als ausreichend und eine engere Beaufsichtigung des Beklagten zu 1 nicht als notwendig angesehen hat. Das Berufungsgericht hat seine Auffassung damit begründet, daß der Beklagte zu 1 trotz seiner geistigen Retardierung, die zu einem Reiferückstand von einem bis zwei Jahren geführt habe, immer noch einem sieben- bis achtjährigen Kind gleichzustellen sei; auch bei solchen Kindern könne eine Aufsicht “auf Schritt und Tritt” nicht verlangt werden. Damit wird das Berufungsgericht jedoch den Besonderheiten des Falles nicht gerecht.
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Der Umfang der gebotenen Aufsicht richtet sich, wie der Senat in den vorgenannten Entscheidungen ebenfalls wiederholt ausgesprochen hat, nach Alter, Eigenart und Charakter des Minderjährigen. Bei einem normal entwickelten Kind im Alter von sieben bis acht Jahren kann eine Überwachung auf Schritt und Tritt und eine regelmäßige Kontrolle, etwa in halbstündigen Abständen, unangemessen sein (Senatsurteil vom 10. Juli 1984 aaO S. 969). Dabei wird vorausgesetzt, daß sich Kinder in diesem Alter den Belehrungen ihrer Erziehungsberechtigten nicht grundsätzlich verschließen, die Erfahrungen des Lebens mit seinen Gefahren in sich aufnehmen und ihr Verhalten im allgemeinen altersentsprechend danach ausrichten. Diese Maßstäbe, die bei normal entwickelten Kindern zugrunde gelegt werden, können jedoch auf ein Kind, das wie hier nicht nur geistig retardiert ist, sondern schwere Verhaltensstörungen mit ausgeprägter Aggressionsbereitschaft aufweist, nicht angewandt werden.
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Das Berufungsgericht stellt fest, daß der Beklagte zu 1 in die Diagnose- und Förderklasse 1 einer Schule für Lernbehinderte eingeschult worden und während der Schulzeit wegen seines “äußerst extremen aggressiven Verhaltens” aufgefallen sei; er habe sich, wenn er auf sein Fehlverhalten angesprochen worden sei, nicht einsichtig gezeigt, sondern sei “zum Gegenangriff übergegangen”; wenn er sich in einer aggressiven Phase befunden habe, sei er nicht in der Lage gewesen, “Belehrungen zu speichern oder abzurufen”. Schon diese Feststellungen sind geeignet, Zweifel daran zu begründen, ob sich die Beklagten zu 2 und 3 darauf beschränken durften, ihren Sohn wie ein normal entwickeltes sieben- bis achtjähriges Kind zu überwachen. Keinesfalls reichte die Beaufsichtigung durch die Beklagten zu 2 und 3 jedoch bei Berücksichtigung dessen aus, was der als Zeuge vernommene Sonderschullehrer H. darüber hinaus noch ausgesagt hat und was die Revision mit Recht als nicht berücksichtigt rügt. Der Zeuge hat bekundet, fast jeder Tag sei ein Kampftag gewesen; oft sei der Beklagte zu 1 schon äußerst aggressiv in die Schule gekommen, weil irgendwelche Kämpfe auf dem Schulweg oder im Bus vorangegangen seien; wenn er eine solche Phase durchlebte, sei er nicht mehr Herr seiner selbst gewesen; anders als bei den sonstigen Schülern sei seine Aggressivität nicht steuerbar gewesen; sein Verhalten sei äußerst extrem und die Abweichungen nicht einmal im Lehrbuch nachvollziehbar; häufig habe er sich schon auf dem Schulweg gerauft und dabei plan- und ziellos geschlagen; im Vergleich zu anderen Schülern habe er eine überdurchschnittliche Aggressivität gezeigt; aufgrund dieses unkontrollierten Verhaltens habe die Schule darauf bestanden, daß die Beklagten zu 2 und 3 ihren Sohn persönlich zur Schule bringen, was dann auch geschehen sei.
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Die Feststellung des Berufungsgerichts, der Beklagte zu 1 habe über seine “allgemein-lästigen Lausbubenstreiche” hinaus zu Mißtrauen keinen konkreten Anlaß gegeben, ist mit diesen Ausführungen nicht vereinbar, was die Revision zu Recht beanstandet. Nach den vom Berufungsgericht insoweit nicht berücksichtigten Bekundungen des Zeugen waren die Verhaltensstörungen des Beklagten vielmehr derart ausgeprägt und seine Handlungen so unkontrolliert, daß sich seine Beaufsichtigung nicht nach den Maßstäben richten kann, die im allgemeinen für ein bis zwei Jahre jüngere Kinder maßgebend sind. Ebensowenig können sich die Beklagten zu 2 und 3 damit verteidigen, daß ihr Sohn bisher durch Zündelaktivitäten nicht aufgefallen war, denn bei seiner Aggressivität war jederzeit auch mit anderen, sich bei Gelegenheit bietenden Ausschreitungen zu rechnen. Die Charaktereigentümlichkeiten des Beklagten zu 1 geboten deshalb eine mehr oder weniger ständige unmittelbare Kontrolle durch die Beklagten zu 2 und 3.
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Eine solche enge Überwachung war den Beklagten zu 2 und 3 entgegen dem Berufungsgericht auch durchaus zuzumuten. Der Senat verkennt nicht, daß eine Beaufsichtigung in diesem Umfange im praktischen Leben nur schwer zu realisieren ist. Dadurch allein wird sie aber nicht unzumutbar. Die Zumutbarkeit von Aufsichtsmaßnahmen richtet sich stets nach dem Ausmaß der Gefahr, die außenstehenden Dritten durch die Eigenart und den Charakter eines Kindes droht. Außergewöhnliche Gefahren erfordern im Einzelfall auch ein außergewöhnliches Maß an Aufsicht. Für den Revisionsrechtszug ist zu unterstellen, daß entsprechend den Bekundungen des Zeugen H. von dem Beklagten zu 1 durch sein unberechenbares und unkontrolliertes Verhalten besondere Gefahren ausgingen, was den Beklagten zu 2 und 3 bekannt war. Es war daher an ihnen, diesen Gefahren durch eine genügende Aufsicht zu begegnen, um insbesondere eine vorsätzliche Brandstiftung wie hier, die offensichtlich auf der Aggressionsneigung des Beklagten zu 1 beruht, zu verhindern. Es geht wegen des in § 832 BGB zum Ausdruck gekommenen gesetzgeberischen Willens nicht an, dieses Risiko, das Dritten durch solche Kinder droht, dem Geschädigten aufzubürden. Das gilt um so mehr, als Eltern in der Lage der Beklagten zu 2 und 3 die Möglichkeit haben, das Risiko, das sie zu tragen haben, angemessen zu versichern, wie dies im Streitfall nach den getroffenen Feststellungen auch tatsächlich geschehen ist.
IV.
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Nach allem muß das angefochtene Urteil in bezug auf die Beklagten zu 2 und 3 aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden, damit die bisher unterbliebenen Feststellungen zu der Aussage des Zeugen H. nachgeholt werden können.