Zur Sorgfaltspflicht beim Herausfahren aus einer Parkbucht

LG Osnabrück, Beschluss vom 21.02.2018 – 4 S 27/18

Zur Sorgfaltspflicht beim Herausfahren aus einer Parkbucht

Tenor

I.

Die Kammer beabsichtigt, die Berufung durch nicht anfechtbaren einstimmigen Beschluss nach § 522 Abs. 2 ZPO zurückzuweisen.

Der Kläger erhält Gelegenheit, zu diesem Hinweis Beschluss binnen 2 Wochen Stellung zu nehmen.

II.

Der Kläger nimmt die Beklagten als Gesamtschuldner auf Zahlung von Schadensersatz aus einem Verkehrsunfall in Anspruch.

Der Unfall ereignete sich auf einem Parkplatz eines Supermarktes. Der Kläger wollte mit seinem PKW Kia Picanto eine Parkbucht vorwärts fahrend verlassen, als der Beklagte mit seinem Opel Agila von hinten rechts kommend, nach Überqueren mehrerer freier Parkbuchten, mit dem PKW des Klägers kollidierte. Die Beklagte zu 2. hat vorgerichtlich an den Kläger einen Betrag in Höhe von 1.225,88 € gezahlt unter Zugrundelegung eines Anspruchs in Höhe von 50% des Wiederbeschaffungsaufwandes zuzüglich Sachverständigenkosten und Pauschale.

Der Kläger hat behauptet, der Beklagte zu 1. habe sich mit überhöhter und unangemessener Geschwindigkeit genähert, so dass er, der Kläger, den Unfall nicht habe vermeiden können. Er habe unfallbedingt eine HWS-Distorsion erlitten. Er hat die Ansicht vertreten, die Beklagten hafteten für die Unfallschäden zu 100 %. Er hat beantragt, die Beklagten als Gesamtschuldner zur Zahlung der Nettoreparaturkosten zuzüglich Sachverständigengebühren und Pauschale sowie eines Schmerzensgeldes in Höhe von 500,00 € zu verurteilen. Die Beklagten haben mit der Behauptung, der Kläger habe die notwendige Aufmerksamkeit in Richtung des herannahenden Beklagtenfahrzeugs außer Acht gelassen, beantragt, die Klage abzuweisen.

Das Amtsgericht hat nach Einholung eines schriftlichen interdisziplinären Sachverständigengutachtens die Klage abgewiesen und dazu ausgeführt, der Kläger habe nicht bewiesen, dass das Beklagtenfahrzeug mit für die Parkplatzsituation unangemessen hoher Geschwindigkeit gefahren sei. Nach dem Sachverständigengutachten sei von einer Kollisionsgeschwindigkeit des Beklagtenfahrzeugs von 16 km/h auszugehen. Zu Lasten beider Parteien wirke daher lediglich die Betriebsgefahr haftungsbegründend, die bei beiden beteiligten Fahrzeugen gleich hoch anzusetzen sei. Der Kläger könne, weil er unstreitig sein Fahrzeug nicht habe reparieren lassen, lediglich den Wiederbeschaffungsaufwand verlangen. Schmerzensgeld stehe ihm nicht zu, weil er nicht bewiesen habe, dass er eine HWS-Distorsion erlitten habe.

Mit der Berufung wendet sich der Kläger gegen die Abweisung der Klage bezüglich der materiellen Schäden. Das Amtsgericht habe zu Unrecht ein unfallursächliches schuldhaftes Verhalten des Beklagten verneint. Angesichts der vom Beklagtenfahrzeug gefahrenen Geschwindigkeit von mindestens 16 km/h und dessen Fahrtrichtung sei dessen Betriebsgefahr erhöht gewesen. Ferner habe der Beklagte gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot verstoßen, weil er in das nahezu stehende Fahrzeug des Klägers hineingefahren sei. Verfahrensfehlerhaft habe das Amtsgericht die Videoaufnahme nicht ausgewertet. Im Übrigen stehe ihm, dem Kläger, jedenfalls der Wiederbeschaffungswert brutto abzüglich des Restwertes zu.

Mit den gegen das amtsgerichtliche Urteil erhobenen Einwendungen dringt der Kläger im Ergebnis nicht durch. Das Amtsgericht hat die Klage mit im Wesentlichen zutreffender Begründung, auf die Bezug genommen wird, abgewiesen.

Dem Kläger steht gegen die Beklagten kein weiterer Schadensersatzanspruch aus dem streitgegenständlichen Verkehrsunfall gemäß §§ 7 Abs. 1, 17 Abs. 1, 2, 18 StVG, 823 Abs. 1 BGB, 115 Abs. 1 VVG zu. Nach der im Rahmen des § 17 Abs. 1 und 2 StVG vorzunehmenden Abwägung der beiderseitigen Verschuldens- bzw. Verursachungsbeiträge der beteiligten Fahrzeuge hält die Kammer eine Haftungsverteilung von je 1/2 für gerechtfertigt. Beide Unfallbeteiligte haben durch ihr Verhalten schuldhaft den Unfall mitverursacht. Dadurch war die jeweilige Betriebsgefahr ihrer Fahrzeuge in etwa gleichem Maße erhöht.

Dabei war zu Lasten der Beklagten die vom Sachverständigen festgestellte Kollisionsgeschwindigkeit des von dem Beklagten zu 1. geführten Opel Agila von 16 km/h zu berücksichtigen, die einen schuldhaften Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO darstellt, der auch unfallursächlich war.

Es ist anerkannt, dass auf allgemein zugänglichen Privatparkplätzen – wie hier auf dem für jedermann zugänglichen Parkplatz der Firma R. – die Bestimmungen der Straßenverkehrsordnung gelten (BGH, Urteil vom 15.12.2015, Az. VI ZR 6/15, NJW 2016, 1098; OLG Düsseldorf, Urteil vom 7.3.2017, Az. 1 U 97/16; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl., § 1 StVO Rn. 15). Auch auf einem allgemein zugänglichen Parkplatzgelände gilt dabei für jeden Fahrzeugführer das aus § 1 Abs. 2 StVO folgende Gebot der allgemeinen Rücksichtnahme. Wegen der auf einem Parkplatz ständig zu erwartenden Ein- und Ausparkvorgänge obliegen jedem Kraftfahrer dabei erhöhte Sorgfalt- und Rücksichtspflichten. Angesichts der ständig wechselnden Verkehrssituationen auf einem Parkplatz muss bei stetiger Bremsbereitschaft mit Schrittgeschwindigkeit gefahren werden (OLG Düsseldorf aaO; Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44 . Aufl., § 8 StVO, Rn. 31a). Schrittgeschwindigkeit bedeutet eine sehr langsame Geschwindigkeit, die der eines normal gehenden Fußgängers entspricht, also in der Größenordnung zwischen 4-7 km/h, höchstens jedoch 10 km/h (LG Heidelberg, Urteil vom 20.02.2015, Az. 3 O 93/14; AG München, Urteil vom 13.6.2016, Aktenzeichen 333 C 16463/13; OLG Düsseldorf, Urteil vom 7.3.2017, Az. 1 U 97/16).

Die von dem Beklagten zu 1. gefahrene Geschwindigkeit lag deutlich darüber, so dass seinerseits ein vermeidbarer, unfallursächlicher Verstoß gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot zugrunde zu legen ist.

Andererseits ist auch dem Kläger ein schuldhafter Verkehrsverstoß anzulasten. Der Kläger hat dadurch, dass er beim Ausfahren aus der Parklücke nicht die größtmögliche Sorgfalt walten ließ und insbesondere nicht den von rechts kommenden Beklagten zu 1. vor dem Verlassen der Parklücke hat passieren lassen, ebenfalls gegen das allgemeine Rücksichtnahmegebot aus § 1 Abs. 2 StVO verstoßen.

Die besonderen Vorfahrt-und Vorrangregeln der Straßenverkehrsordnung, die in erster Linie dem Schutz des fließenden und deshalb typischerweise schnelleren Verkehrs dienen, gelten auf Parkplätzen ohne eindeutigen Straßencharakter nur mittelbar über § 1 Abs. 2 StVO (BGH, Urteil vom 11.10.2016, Az. VI ZR 66/16, DAR 2017, 74). Insofern sind die Wertungen der §§ 8 Abs. 1 S. 1, 10 StVO im Rahmen der Pflichtenkonkretisierung nach § 1 Abs. 2 StVO zu berücksichtigen. Eine direkte Anwendung der Vorfahrtregeln scheidet aus, weil es auf Parkplätzen an „Kreuzungen“ und „Einmündungen“ sowie „Fahrbahnen“, die dem fließenden Verkehr dienen, fehlt. Die Zuwegungen auf Parkplätzen dienen nicht dem fließenden Verkehr, sondern dem Aufsuchen der Parkflächen und damit dem ruhenden Verkehr (Hentschel/König/Dauer, Straßenverkehrsrecht, 44. Aufl., § 8 StVO, Rz. 31 a; OLG Düsseldorf, Urteil vom 7.3.2017, Az. 1 U 97/16). Soweit auf öffentlich zugänglichen Privatparkplätzen die „Fahrbahnen“ zwischen den einzelnen Abstellreihen den Charakter von Straßen haben, gilt aber grundsätzlich die allgemeine Vorfahrtregel „rechts vor links“, ebenso wie die besondere Sorgfaltspflicht desjenigen, der aus einer markierten Parkbucht auf eine solche „Fahrbahn“ einfahren will, entsprechend § 10 StVO bzw. im Falle eines rückwärtigen Hinausfahrens entsprechend § 9 Abs. 5 StVO (vgl. Saarländisches Oberlandesgericht, Urteil vom 09.10.2014, 4 U 46/14; OLG Düsseldorf aaO).

Der Kläger hätte daher vor dem Verlassen der Parkbucht dem Beklagten zu 1. die Vorfahrt gewähren müssen, auch wenn dieser vor dem Erreichen der „Fahrbahn“, auf die der Kläger auffahren wollte, quer über einige Parkbuchten gefahren war. Kurz vor der Kollision näherte sich das Beklagtenfahrzeug jedenfalls aus Sicht des Klägers von rechts auf der – gegenüber dem aus einer Parkbucht Ausfahrenden – i.S.v. § 10 StVO bevorrechtigten „Fahrbahn“. Der Kläger hat dem herannahenden Beklagtenfahrzeug nicht die gebotene Aufmerksamkeit zukommen lassen. Der Unfall wäre andernfalls vermieden worden. Das klägerische Fahrzeug befand sich während der Kollision auch unstreitig in Bewegung. Dass dessen Geschwindigkeit auch vom Sachverständigen mit sehr gering eingestuft wurde, lässt den Vorwurf der schuldhaften Unfall-Mitverursachung durch den Kläger nicht entfallen.

Beide Verstöße wiegen ungefähr gleich schwer, so dass die vom Amtsgericht angenommene Haftungsquote von 50:50 nicht zu beanstanden ist.

Soweit der Kläger weiter rügt, das Amtsgericht habe verfahrensfehlerhaft das Video mit dem Unfallhergang nicht verwertet, ist bereits nicht vorgetragen, welche von den tatsächlichen Feststellungen des Amtsgerichts abweichenden Erkenntnisse die Einsichtnahme erbracht hätte.

Die Höhe des dem Kläger zu ersetzenden Schadens hat das Amtsgericht zutreffend berechnet. Dem Kläger steht 50% seines Wiederbeschaffungsaufwandes zuzüglich hälftiger Sachverständigengebühren und Pauschale zu. Die Frage, ob Anspruch auf Ersatz der fiktiven Reparaturkosten besteht oder aber der Wiederbeschaffungsaufwand (Wiederbeschaffungswert abzüglich Restwert) zu erstatten ist, ist auf Grundlage eines Vergleichs der Bruttobeträge zu beantworten (vgl. BGH NJW 2009, 1340; Palandt-Grüneberg, BGB, 77. Aufl., § 249 Rz. 24). Danach liegt der Wiederbeschaffungsaufwand mit 2.100,00 € unter den Bruttoreparaturkosten in Höhe von 2.399,37 €.

Im Rahmen des dem Kläger tatsächlich zuzusprechenden Schadensersatzanspruchs findet hingegen die Vorschrift des § 249 Abs. 2 Satz 2 BGB Anwendung, so dass bei der Berechnung des Wiederbeschaffungsaufwandes die Mehrwertsteuer, die der vom Kläger beauftragte Sachverständige Vehling mit 116,67 € ermittelt hat, abzuziehen war.

Die zur Entscheidung stehende Rechtssache hat keine grundsätzliche Bedeutung und eine Urteilsentscheidung ist weder zur Fortbildung des Rechts noch zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten, § 522 Abs. 2 Satz 1 ZPO. Ein rechtlich relevanter neuer Tatsachenvortrag i.S. des § 531 Abs. 2 ZPO liegt nicht vor. Das angefochtene Urteil beruht aus den genannten Gründen nicht auf einer falschen Rechtsanwendung.

Ein mündliche Verhandlung i.S. von § 522 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 ZPO ist nicht geboten.

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