BGH, Urteil vom 24.06.1997 – VI ZR 94/96
Die Weigerung des Patienten, eine Untersuchung vornehmen zu lassen, die zur Abklärung einer Verdachtsdiagnose erforderlich ist, ist in einem späteren Haftpflichtprozeß rechtlich nur dann beachtlich, wenn der Arzt den Patienten auf die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Untersuchung hingewiesen hat.
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des 5. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Oldenburg vom 6. Februar 1996 aufgehoben.
Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
1
Der Kläger begehrt von dem Beklagten, seinem Hausarzt, mit der Behauptung einer fehlerhaften ärztlichen Behandlung und einer daraus folgenden körperlichen Schädigung Zahlung materiellen und immateriellen Schadensersatzes und erstrebt die Feststellung der Verpflichtung, künftigen Schaden zu ersetzen.
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Am 24. März 1993 suchte der Kläger den Beklagten wegen Schmerzen und eines Taubheitsgefühls im Arm auf. Der Beklagte untersuchte ihn und renkte einen Nackenwirbel ein. Die Schmerzen ließen jedoch nicht nach. Am nächsten Tag verschrieb der Beklagte dem Kläger Tabletten gegen Bluthochdruck. Wegen weiterer Beschwerden begab sich der Kläger am 26. März 1993 zu dem Orthopäden Dr. S.. Auf dessen Rat suchte der Kläger noch am selben Tag den Neurologen Dr. K. auf, der eine leichte armbetonte Halbseitensymptomatik rechts mit einer leichten Bewegungsstörung im rechten Arm bei raschen Bewegungen, ferner ein Absinken des Armes in den Halteversuchen und eine Betonung der Muskeldehnreflexe rechts sowohl des Armes als auch des Beines feststellte. Elektroencephalographie und Dopplersonographie ergaben normale Befunde. Wegen des Verdachts einer cerebralen Störung meldete er den Kläger für eine craniale Computertomographie an, die am 29. März 1993 durchgeführt werden sollte. Weiter empfahl er dem Kläger, eine Infusionstherapie durchführen zu lassen und sich – falls sich seine Beschwerden verstärken sollten – in stationäre Behandlung zu begeben. Der Kläger erschien noch am selben Tag wieder in der Praxis des Beklagten und verlangte eine Infusionstherapie bzw. eine Überweisung ins Krankenhaus. Dem entsprach der Beklagte nicht. In der Patientenkartei hatte er eingetragen: “V. Mediainfarkt”. Zwei Tage später hatte der Kläger einen Schlaganfall mit daraus resultierenden Lähmungen.
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Der Kläger hat behauptet, der Schlaganfall wäre vermieden worden, wenn der Beklagte eine Infusionsbehandlung durchgeführt oder ermöglicht hätte. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers hatte keinen Erfolg. Mit der Revision verfolgt er sein Klagebegehren weiter.
Entscheidungsgründe
I.
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Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, der Kläger habe nicht nachgewiesen, daß der Beklagte ihn am 26. März 1993 falsch behandelt habe. Da der Neurologe Dr. K. nach der Untersuchung des Klägers nicht von der Gefahr eines Schlaganfalls ausgegangen sei, habe der Beklagte dies von sich aus ebenfalls nicht in Erwägung ziehen und eine vorbeugende Behandlung nicht einleiten müssen.
5
Die Behauptung des Beklagten, er habe den Kläger nur deshalb weder in ein Krankenhaus überwiesen noch weiter behandelt, weil dieser sich nicht habe untersuchen lassen, sei vom Kläger außerdem nicht widerlegt worden. Ohne eingehende eigene Untersuchung sei der Beklagte nicht verpflichtet gewesen, die weitere Behandlung des Klägers zu übernehmen.
II.
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Diese Ausführungen halten der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Auf der Grundlage der vom Berufungsgericht bisher getroffenen Feststellungen kann ein dem Beklagten vorwerfbarer Behandlungsfehler nicht verneint werden.
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1. Der Beklagte hatte die Behandlung des Klägers schon vor dem 26. März 1993 übernommen. Die damit begründete Garantenstellung verpflichtete ihn, auch am Nachmittag des 26. März 1993 zur Abwehr gesundheitlicher Gefährdungen des Klägers diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, welche von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt aus berufsfachlicher Sicht seines Fachbereiches vorausgesetzt und erwartet werden (vgl. Senatsurteil vom 29.11.1994 – VI ZR 189/93 – VersR 1995, 659, 660).
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a) Revisionsrechtlich ist davon auszugehen, daß der Beklagte diesen Anforderungen objektiv nicht genügt hat. Mangels abweichender Feststellungen des Berufungsgerichts ist nämlich die Richtigkeit der Behauptungen des Klägers zu unterstellen, nach dem bei ihm am 26. März 1993 vorhandenen Befund habe sich der Verdacht auf einen drohenden Schlaganfall aufgedrängt, so daß das Unterlassen der Behandlung, das den eingetretenen Schaden verursacht habe, objektiv fehlerhaft gewesen sei.
9
b) Ob das somit zugrunde zu legende fehlerhafte Unterlassen einer Infusionstherapie oder einer Überweisung in ein Krankenhaus dem Beklagten zum Verschulden gereicht, kann mit der vom Berufungsgericht gegebenen Begründung nicht verneint werden. Maß und Umfang der vom Arzt im Einzelfall zu verlangenden Sorgfalt bestimmen sich nach dem Gewicht der jeweiligen Gefahr und den in der einschlägigen ärztlichen Fachrichtung zu erwartenden Kenntnissen und Fähigkeiten. Dem werden die Erwägungen des Berufungsgerichts nicht gerecht. Zwar schuldet ein Arzt für Allgemeinmedizin meist ein geringeres Maß an Sorgfalt und Können als ein Facharzt einer anderen Sparte (vgl. BGHZ 113, 297, 303, 304).
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Es kann den Beklagten auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen aber nicht entlasten, wenn der Facharzt für Neurologie Dr. K. – wie der Beklagte behauptet hat – nicht erkannt haben sollte, daß beim Kläger am 26. März 1993 Verdacht auf einen bevorstehenden Schlaganfall bestanden hatte. Das Berufungsgericht hat nicht beachtet, daß ein Arzt auch seine speziellen Erkenntnisse zu Gunsten des Patienten einzusetzen hat (vgl. Senatsurteil vom 10. Februar 1987 VI ZR 68/86 VersR 1987, 686, 687; OLG Oldenburg VersR 1989, 402 mit Nichtannahmebeschluß des Senats vom 13. Dezember 1988 VI ZR 169/88). Dabei macht es keinen Unterschied, ob diese besonderen, für die Behandlung des Patienten bedeutsamen Erkenntnisse, über die der Arzt verfügt, aus der konkreten Behandlung gerade dieses Patienten herrühren oder auf abstrakter Kenntniserlangung etwa durch ärztliche Fortbildung beruhen.
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Maßgebend ist insoweit im vorliegenden Fall, daß der Beklagte auf der Patientenkarteikarte des Klägers unter dem 26. März 1993 den Verdacht eines Media-Infarktes festgehalten hatte. Auch wenn diese Eintragung lediglich aufgrund der Schilderungen des Klägers erfolgt sein und eine mögliche Diagnose auch nur auf diesen Angaben beruht haben mag, worauf das Berufungsgericht in anderem Zusammenhang abstellt, konnte aus diesem Verdacht, dessen Bedeutung für die Diagnose der Gefahr eines Schlaganfalles nach den bisherigen Feststellungen nicht ausgeschlossen werden kann, eine besondere Verantwortung des Beklagten folgen, welche ein sorgfältiges Vorgehen zur Ausräumung des Verdachts bedingte.
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Das Berufungsgericht hätte demnach eine fehlerhaft unterlassene und damit fahrlässig fehlerhafte Behandlung des Klägers durch den Beklagten nicht verneinen dürfen, ohne sachverständig beraten den Sorgfaltsmaßstab des Hausarztes im Hinblick auf die dem Beklagten geschilderten Symptome und insbesondere hinsichtlich der Verdachtsdiagnose auf einen Media-Infarkt näher zu bestimmen und zu prüfen, ob die vom Beklagten verlangten Maßnahmen aus damaliger medizinischer Sicht und nach dem Kenntnisstand des Beklagten geboten und geeignet waren, die aus der Verdachtsdiagnose eventuell erkennbaren Gesundheitsgefahren vom Kläger abzuwenden.
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2. Dieser Prüfung war das Berufungsgericht auch nicht deshalb enthoben, weil der Kläger entsprechend dem weiteren Vortrag des Beklagten sich nicht hat untersuchen lassen.
14
Die Weigerung des Patienten, eine Untersuchung vornehmen zu lassen, die zur Abklärung einer Verdachtsdiagnose erforderlich ist, ist rechtlich nur dann beachtlich, wenn der Arzt den Patienten auf die Notwendigkeit und Dringlichkeit der Untersuchung hingewiesen hat. Ob das hier geschehen ist, ist offen. Die Parteien werden Gelegenheit haben, hierzu Näheres auszuführen. Sollte diese Frage streitig werden, weist der Senat darauf hin, daß dem Patienten eine mangelnde Dokumentation des Arztes – soweit sie aus medizinischer Sicht erforderlich war – zu Hilfe kommen kann (vgl. BGHZ 99, 391, 395; Senatsurteil vom 19. Mai 1987 VI ZR 147/86 VersR 1987, 1091, 1092).