Zum Umfang der elterlichen Aufsichtspflicht bei verhaltensauffälligen Kindern

BGH, Urteil vom 18.03.1997 – VI ZR 91/96

Die bloße Feststellung einer “Milieuschädigung” des Minderjährigen reicht nicht aus, um den Aufsichtspflichtigen zu einer Überwachung auf Schritt und Tritt zu verpflichten. Hierfür bedarf es vielmehr konkreter Feststellungen, die die Annahme rechtfertigen, daß als Folge besonderer Aggressionsbereitschaft oder sonstiger Verhaltensstörungen des Minderjährigen stets mit gefährlichen Streichen zu rechnen ist (im Anschluß an BGH, 1995-10-10, VI ZR 219/94, VersR 1996, 65, 66).

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des 3. Zivilsenats des Oberlandesgerichts München vom 17. Januar 1996 aufgehoben.

Die Sache wird zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Revision, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Von Rechts wegen

Tatbestand
1
Die Kläger hatten auf ihrem landwirtschaftlichen Hof eine Gruppe von 10 zum Teil verhaltensgestörten Kindern im Alter zwischen 1 1/2 und 14 Jahren aus einem Heim, dessen Träger der Beklagte zu 1) ist, mit drei Betreuerinnen im Rahmen eines Ferienaufenthalts vom 6.-25. August 1990 aufgenommen. Eine der Betreuerinnen war die Beklagte zu 2). Am 25. August 1990 brach gegen 12.45 Uhr in der als Strohlager verwendeten Obertenne des Stallgebäudes ein Brand aus, der das Stallgebäude und eine westlich angrenzende Stallung zerstörte. Die unterversicherten Kläger haben die Beklagten auf Ersatz ihres von der Brandversicherung nicht gedeckten Restschadens von 507.611 DM in Anspruch genommen, weil die drei Ferienkinder L., geboren im Oktober 1976, H., geboren im Dezember 1980, und A., geboren im September 1982, gemeinsam, oder eines dieser drei Kinder allein das Stroh angezündet hätten. Die Beklagten hätten dies unter Verletzung ihrer Aufsichtspflicht nicht unterbunden.

2
Das Landgericht hat die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Die Berufung der Beklagten blieb ohne Erfolg. Mit ihrer Revision verfolgen die Beklagten ihren Antrag auf Abweisung der Klage weiter.

Entscheidungsgründe
I.

3
Das Berufungsgericht hat die Zurückweisung der Berufung im wesentlichen damit begründet, infolge der Angaben der Beklagten zu 2) zu dem Geschehen vor und nach dem Brandausbruch, der Aussagen der vernommenen Zeugen und des Ergebnisses der polizeilichen Vernehmungen habe eine erhebliche Wahrscheinlichkeit für die von den Klägern behauptete Brandlegung bestanden, die die Vernehmung des Klägers zu 1) als Partei gemäß § 448 ZPO gestattet habe. Danach sei die Brandstiftung durch die drei Ferienkinder als erwiesen anzusehen. Eine Vernehmung auch der Beklagten zu 2) als Partei aus Gründen der Waffengleichheit sei nicht veranlaßt gewesen. Für den durch die Brandstiftung entstandenen Schaden hafteten die Beklagten als Gesamtschuldner. Der Beklagte zu 1) sei aufgrund des mit den Klägern geschlossenen Vertrages verpflichtet gewesen, die Kinder so zu beaufsichtigen, daß sie keine die Kläger schädigenden Handlungen hätten begehen können. Er müsse sich das Verschulden der Beklagten zu 2), deren er sich zur Erfüllung dieser Verpflichtung bedient habe, als eigenes anrechnen lassen. Die Beklagte zu 2) habe zwar bis unmittelbar vor Brandausbruch alle Kinder beaufsichtigt. Dann aber habe sie sich für fünf Minuten in das Haus zurückgezogen. Diese kurze Abwesenheit der Beklagten zu 2) habe den Kindern genügt, um auf der Tenne Feuer zu legen und sich sogleich wieder unter die anderen im Hof spielenden Kinder zu mischen. Die Beklagte zu 2) habe es schuldhaft unterlassen, dafür Sorge zu tragen, daß während ihres kurzen Aufenthaltes im Haus eine der beiden anderen Betreuerinnen die Kinder beaufsichtigte. Dieses Verhalten sei fahrlässig gewesen, weil ihr bekannt gewesen sei, daß die drei Kinder milieugeschädigt gewesen seien; sie habe deshalb damit rechnen müssen, daß die Kinder ihre Abwesenheit zu einem Streich mit nachteiligen Folgen für Dritte ausnutzen würden. Ein Mitverschulden der Kläger an der Brandentstehung sei dagegen nicht bewiesen. Es stehe nicht fest, daß die Kinder die verwendeten Zündmittel aus der Küche der Kläger an sich genommen hätten.

II.

4
Die Ausführungen des Berufungsgerichts halten den Angriffen der Revision in einem entscheidenden Punkt nicht stand. Die bisherigen Feststellungen des Berufungsgerichts rechtfertigen nicht die Annahme einer Aufsichtspflicht, die “auf Schritt und Tritt” auszuüben gewesen wäre und eine Abwesenheit des Aufsichtspflichtigen von nur fünf Minuten nicht gestattet hätte.

5
1. Fehler des Berufungsgerichts im Zusammenhang mit der Beweiswürdigung vermag die Revision nicht darzutun. Der Senat hat die Rügen der Revision hierzu geprüft und erachtet sie für nicht durchgreifend; von einer Begründung wird abgesehen (§ 565 a ZPO). Von einer Verursachung des Brandes durch die drei Kinder ist demnach auszugehen.

6
2. Die bisherigen tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts erlauben nicht den Schluß, daß eine Beaufsichtigung der drei Kinder auch während einer einmaligen Abwesenheit der Betreuerin bis zu fünf Minuten erforderlich war.

7
Das Berufungsgericht hat unterstellt, daß die Beklagte zu 2) die drei Kinder lediglich für fünf Minuten unbeaufsichtigt gelassen habe. Es hat dieses Verhalten als fahrlässig gewertet, weil sie gewußt habe, daß die Kinder “milieugeschädigt” gewesen seien, und sie damit habe rechnen müssen, daß die Kinder ihre Abwesenheit zu einem Streich mit nachteiligen Folgen für Dritte benutzen würden. Die Revision vermißt hierzu mit Recht eine Feststellung und Würdigung der maßgeblichen Einzelumstände auf der Grundlage der Rechtsprechung des Senats.

8
a) Allerdings sind an die Überwachung von Kindern hinsichtlich des möglichen Umgangs mit Zündmitteln strenge Anforderungen zu stellen, die eine gesteigerte Aufsichtspflicht erfordern (vgl. Senatsurteil vom 27. Februar 1996 – VI ZR 86/95VersR 1996, 586, 587 unter II. 1.). Dem liegt die Erfahrung zugrunde, daß nicht selten durch Kinder Brände mit erheblichen Schäden verursacht werden. Dieses Risiko, welches für Dritte von Kindern ausgeht, soll nach dem Grundgedanken des § 832 BGB in erster Linie von den Aufsichtspflichtigen getragen werden, denen es eher zumutbar ist als dem außenstehenden Geschädigten, und die überdies eher die Möglichkeit haben, in der gebotenen Weise auf das Kind einzuwirken. Davon geht auch das Berufungsgericht aus, wenn es der Zweitbeklagten eine gesteigerte Aufsichtspflicht auferlegt, wie sie nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats stets dann angebracht ist, wenn Minderjährige zu üblen Streichen oder Straftaten neigen (vgl. Senatsurteile vom 27. November 1979 – VI ZR 98/78VersR 1980, 278, 279 unter II. 2. a); vom 10. Oktober 1995 – VI ZR 219/94VersR 1996, 65, 66 unter III. 1. m.w.N.).

9
Der Umfang der gebotenen Aufsichtspflicht richtet sich nach Alter, Eigenart und Charakter des Minderjährigen. Bei einem normal entwickelten Kleinkind können – je nach Sachlage – eine Überwachung “auf Schritt und Tritt” oder eine regelmäßige Kontrolle, etwa in halbstündigen Abständen erforderlich sein. Grundsätzlich muß aber Kindern im Alter von acht bis neun Jahren, wenn sie normal entwickelt sind, das Spielen im Freien ohne Aufsicht auch in einem räumlichen Bereich gestattet sein, der dem Aufsichtspflichtigen ein sofortiges Eingreifen nicht ermöglicht (vgl. Senatsurteil vom 19. November 1963 – VI ZR 96/63VersR 1964, 313, 314 unter II. 2.). Dieser Maßstab findet aber keine Anwendung auf Kinder, bei denen davon auszugehen ist, daß sie sich den Belehrungen der Aufsichtspflichtigen verschließen, die Erfahrungen des Lebens mit seinen Gefahren nicht in sich aufnehmen und ihr Verhalten nicht im allgemeinen altersentsprechend danach ausrichten. Bei einer erheblich verringerten Einsichtsfähigkeit des Kindes, die es diesem aufgrund einer etwa gegebenen besonderen psychischen Situation nicht gestattet, die Gefährlichkeit des Zündelns zu erkennen und die ihm erteilten Belehrungen und Ermahnungen zu beachten, erfordert der Schutz Dritter eine besondere Überwachung; das gilt insbesondere, wenn eine Neigung des Kindes zum Zündeln oder zu sonstigen gefährlichen Streichen bekannt geworden ist (vgl. Senatsurteile vom 10. Oktober 1995 aaO, vom 27. November 1979 aaO und vom 27. Februar 1996 aaO). Besondere Umstände können dazu führen, daß ein solches Kind auch nicht für fünf Minuten allein gelassen werden darf, also einer Aufsicht “auf Schritt und Tritt” unterzogen werden muß, mag eine solche auch schwer zu verwirklichen sein (vgl. Senatsurteil vom 10. Oktober 1995 aaO unter III. 2.).

10
b) Das Berufungsgericht hat außergewöhnliche Umstände, die eine Überwachung der Kinder “auf Schritt und Tritt” erfordert hätten, nicht festgestellt. Es hat lediglich ausgeführt, die als Brandverursacher festgestellten Kinder seien “milieugeschädigt” gewesen; deshalb sei bei auch nur kurzfristiger Abwesenheit der Aufsichtspflichtigen mit einem für Dritte nachteiligen Streich zu rechnen gewesen. Das genügt nicht den dargestellten Voraussetzungen. Die Wendung “milieugeschädigt” läßt nicht erkennen, ob und ggfls. welche Verhaltensstörungen und welche Aggressionsbereitschaft bei diesen Kindern bestanden. Ferner ist nicht nachvollziehbar, auf welche Umstände das Berufungsgericht sein Mißtrauen gründet, bei den Kindern sei stets mit gefährlichen Streichen zu rechnen gewesen. Der Umstand, daß die drei Kinder in einer Gruppe von “zum Teil verhaltensgestörten Kindern” auf den Hof der Kläger gekommen waren, läßt schon nicht erkennen, welcher Altersgruppe von normal entwickelten Kindern die drei Kinder L., H. und A. aufgrund einer auch bei ihnen möglicherweise vorhandenen Verhaltensstörung gleichzustellen waren. Das Berufungsgericht hat ferner keine näheren Feststellungen zu Eigenart und Charakter der drei Kinder hinsichtlich Einsichtsfähigkeit und Belehrbarkeit getroffen.

11
Damit die erforderlichen näheren Feststellungen – ggfls. nach weiterem Vortrag der Parteien hierzu – getroffen werden können, ist das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen. Je nachdem, welches Ergebnis die erforderliche weitere Aufklärung des Sachverhalts haben wird, wird das Berufungsgericht zu prüfen haben, ob die Beklagten auch ihrer Aufsichtspflicht im allgemeinen und ihrer Aufklärungspflicht gegenüber den Kindern hinsichtlich des Umganges mit Zündmitteln nachgekommen sind, was das Berufungsgericht – von seinem Standpunkt aus zu Recht – bisher nicht geprüft hat.

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