Zur Pflicht des Rechtsanwalt, seine Handakten herauszugeben

Anwaltsgerichtshof NRW, Urteil vom  29.05.2015 – 1 AGH 1/15

Das anwaltliche Berufsrecht verpflichtet einen Rechtsanwalt, nach der Beendigung eines Mandats die von ihm geführten Handakten herauszugeben, wenn der Mandant diese zur weiteren Verfolgung seiner Rechtsangelegenheiten benötigt und die dem Anwalt zustehende Vergütung entrichtet hat.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor

1. Das Urteil des Anwaltsgerichts Düsseldorf vom 9. September 2013 (Az.: 3 EV 413/09) wird aufgehoben.
2. Rechtsanwalt T2 ist schuldig, seinen Beruf nicht gewissenhaft ausgeübt zu haben und sich innerhalb und außerhalb des Berufes der Achtung und des Vertrauens, welche die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, nicht würdig erwiesen zu haben, indem er ihm von den Eheleuten T im Zusammenhang mit drei Mandaten ausgehändigten Unterlagen nicht herausgab, obgleich er wegen seiner Gebühren und Auslagen befriedigt war.
3. Gegen ihn wird als anwaltsgerichtliche Maßnahme ein Verweis verhängt und eine Geldbuße von 2.000.-€ (in Worten: zweitausend Euro), zu zahlen an die RAK Düsseldorf.
4. Rechtsanwalt T2 hat die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten des Revisionsverfahrens und einschließlich seiner notwendigen Auslagen zu tragen.
Angewendete Vorschriften:
§§ 43, 50 BRAO i.V.m. 675, 667 BGB, 114 Abs. 2, 197 BRAO

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Gründe:
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I.
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Feststellungen zur Person
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Der am ##.##.1970 geborene angeschuldigte Rechtsanwalt bestand sein 2. Staatsexamen im Jahre 2003 mit der Note „ausreichend“ und ist seit dem 3. Juni 2003 zur Rechtsanwaltschaft zugelassen. Seine Praxis betrieb er zunächst in M, ab 1. März 2008 bis 28. Februar 2010 als angestellter Rechtsanwalt in L bei Dr. C & Kollegen; danach wieder in einer Einzelpraxis in M. Zum 1. November 2011 verlegte er den Kanzleisitz erneut, diesmal nach U.
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Berufsrechtlich ist Rechtsanwalt T2 bereits mehrfach in Erscheinung getreten:
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Wegen mehrfacher Lücken im Versicherungsschutz (§ 51 BRAO) erhielt er am 17. März 2008 eine Rüge (Az.: IV A 200/08). Das Anwaltsgericht für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer Düsseldorf verhängte gegen ihn durch Urteil vom 7. November 2011 einen Verweis und eine Geldbuße in Höhe von 1.500.- € (Az.: 3 EV 85/08), weil er Fremdgelder nicht unverzüglich an den Empfangsberechtigten weitergeleitet oder auf ein Anderkonto eingezahlt hatte.
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Soweit dem Senat aus dem aufgehobenen Urteil des 2. Senats des Anwaltsgerichtshofes des Landes NRW vom 7. Februar 2014 bekannt wurde, dass der Vorstand der Rechtsanwaltskammer Rechtsanwalt T2 in den Aufsichtssachen A/900/2008 I und A/1007/2008 I ebenfalls Rügen erteilte, in denen es um die unterlassene Herausgabe von Akten ging, konnten keine Feststellungen getroffen werden. Die Akten sind, wie der Senat im Freibeweisverfahren ermittelte, bei der Rechtsanwaltskammer Düsseldorf wegen – was unrichtig war (§ 205a Abs. 3 BRAO) – vermeintlichen Ablaufs der Tilgungsfristen offenbar vernichtet worden. Ein Rückgriff auf die Feststellungen des Urteils des 2. Senats des Anwaltsgerichtshofes des Landes NRW im Urteil vom 7. Februar 2014 war dem Senat verwehrt, nachdem der Bundesgerichtshof durch Urteil vom 3. November 2014 die Feststellungen zu jenem Urteil insgesamt, also auch bezüglich der Feststellungen zur Person, aufgehoben hatte.
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II.
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Feststellungen zur Sache
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1. Rechtsanwalt T2 vertrat die Eheleute T in M anwaltlich in drei Verfahren. Nachdem er zu einer anderen Kanzlei in L gewechselt war, übernahm Rechtsanwalt X aus M die Vertretung der Eheleute T und bat Rechtsanwalt T2 in deren Namen mit Schreiben vom 5. Juni 2008, die ihm durch die Eheleute überlassenen und für diese erhaltenen Schriftstücke herauszugeben. Diesem Herausgabeverlangen entsprach Rechtsanwalt T2 jedenfalls nicht bis zum 24. September 2012, obgleich er wegen seiner Gebühren und Auslagen befriedigt war.
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2. Die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf hatte Rechtsanwalt T2 diesen Sachverhalt in ihrer Anschuldigungsschrift vom 21. Januar 2013 zur Last gelegt und ihm daher vorgeworfen, seinen Beruf nicht gewissenhaft ausgeübt und sich innerhalb des Berufes der Achtung des Vertrauens, welches die Stellung des Rechtsanwalts erfordert, nicht würdig erwiesen zu haben. Das Anwaltsgericht für den Bezirk der Rechtsanwaltskammer Düsseldorf sprach Rechtsanwalt T2 jedoch aus
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Rechtsgründen frei, weil keine berufsrechtliche Pflicht zur Herausgabe der Handakten bestehe. Dieser Rechtsauffassung schloss sich der 2. Senat des AGH NRW an und verwarf die gegen das anwaltsgerichtliche Urteil eingelegte Berufung der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf. Der Anwaltsgerichtshof ließ aber wegen grundsätzlicher Bedeutung der Angelegenheit die Revision zu. Das auf die Sachrüge gestützte Rechtsmittel der Generalstaatsanwaltschaft Hamm hatte beim BGH Erfolg: Er hob das Urteil des 2. Senats des AGH NRW mit den Feststellungen auf und verwies die Sache zur erneuter Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an einen anderen Senat des AGH NRW zurück.
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III.
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Beweiswürdigung
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Diese Feststellungen beruhen auf der Beweisaufnahme, wie sie sich aus dem Sitzungsprotokoll ergibt. Rechtsanwalt T2 selbst hat in seiner in der Hauptverhandlung insoweit verlesenen undatierten Stellungnahme zur Berufungsbegründung der Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf den Vorwurf der unterlassenen Herausgabe der Mandanten-Handakten auch nicht in Abrede gestellt, sondern sich ausschließlich darauf berufen, dass keine entsprechende berufsrechtliche Verpflichtung bestehe.
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IV.
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Rechtliche Würdigung
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1. Die Frage, ob eine berufsrechtliche Pflicht zur Herausgabe einer Handakte besteht, ist umstritten. Unstreitig besteht ein Anspruch auf Herausgabe nach § 675 i. V. m. §§ 666, 667 BGB (BGHZ 109, 260). Eine berufsrechtliche Pflicht soll jedoch verbreiteter Ansicht nach nicht bestehen (AnwG Frankfurt/Main DStR 2011, 327; OLG Düsseldorf BeckRS 2008, 10704; Böhnlein, in: Feuerich/Weyland, BRAO, 8. Aufl. 2012, § 50 Rn. 17; Scharmer, in: Hartung, BRAO, 5. Aufl. 2012, § 50 Rn. 77 f.; a.A. AGH Celle BeckRS 2013, 18717; AnwG Düsseldorf vom 14. März 2013-3 EV 490/11; Offermann-Burckart, Kammermitteilungen RAK Düsseldorf, 2009, S. 282, 285; dieselbe, in: Henssler/Prütting, BRAO, § 50 Rn. 36). Sie sei vor allem § 50 Abs. 3 BRAO nicht zu entnehmen. Denn die Regelung des Zurückbehaltungsrechts in der BRAO setze nicht zwingend eine berufsrechtliche Herausgabepflicht voraus, sondern könne sich allein auf die zivilrechtlich begründete Herausgabeverpflichtung beziehen. Ein berufsrechtlicher Verstoß könne mangels Bestimmtheit auch nicht auf die Generalklausel des § 43 BRAO gestützt werden.
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2. a.) Dies hält rechtlicher Nachprüfung nicht stand. Es besteht nicht nur eine zivilrechtliche, sondern (auch) eine berufsrechtliche Pflicht zur Herausgabe der Handakten. Die Herausgabepflicht ist zwar nicht ausdrücklich in § 50 BRAO geregelt. Sie ist aber aus der Generalklausel des § 43 BRAO i. V. m. §§ 675, 667 BGB und inzident auch der Vorschrift des § 50 BRAO zu entnehmen. Der Senat, ohnehin gem. § 358 Abs.1 StPO an die Rechtsauffassung des Bundesgerichtshofs gebunden, ist der Ansicht, dass die anlasslose Zurückbehaltung der Handakten ein gravierendes Fehlverhalten darstellt. Denn der Mandant übergibt dem Rechtsanwalt seine Unterlagen zur Besorgung des Auftrages in dem Vertrauen, dass dieser – sein Rechtsanwalt – sich für ihn einsetzt und sich zumindest rechtmäßig verhält. Kommt es, aus welchen Gründen auch immer, zu einer Beendigung des Mandats und der Mandant verfolgt seine Rechtsangelegenheiten auf anderem Wege, etwa mit Hilfe eines anderen Rechtsanwalts weiter, kann er mit Fug und Recht erwarten, dass er seine dem früheren Bevollmächtigten ausgehändigten Originalunterlagen zurückerhält. Ist der Rechtsanwalt hinsichtlich seiner Gebühren und Auslagen befriedigt, ist keinerlei Grund erkennbar, der ein solches Verhalten (Zurückhaltung der Handakten) rechtfertigen könnte. Mit einer gewissenhaften Berufsausübung ist das keinesfalls vereinbar, es widerspricht vielmehr in hohem Maße dem Vertrauen, dass der frühere Mandant in den Rechtsanwalt gesetzt hatte.
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b.) Rechtsanwalt T2 handelte schuldhaft. Die Voraussetzungen eines Verbotsirrtums liegen nicht vor. Die „Einsicht, Unrecht zu tun“ (§ 17 S. 1 StGB), wird nach h. M. in Rechtsprechung und Literatur (etwa: BGHSt 45, 97, 111; Momsen, in: Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, 2009, § 17 Rn. 2; Schaefer, in: Leipold/Tsambikakis/Zöller, StGB 2. Aufl. 2014, § 17 Rn. 4) , der der Senat folgt, als das allgemeine „Bewusstsein der Widerrechtlichkeit“ verstanden. Anknüpfungspunkt ist also die Kenntnis des Täters hinsichtlich des Widerspruchs zur Rechtsordnung an sich (Joecks, in: MüKo-StGB, 2. Aufl. 2011, § 17 Rn. 8). Danach muss der Täter nur den Unwertgehalt seines Verhaltens – nicht notwendigerweise der Verletzung einer konkreten Strafnorm oder einer Vorschrift des Berufsrechts – geistig erfasst haben. Deshalb reichen sozialethische Missbilligungen nicht aus. Hier aber hat Rechtsanwalt T2 gewusst, dass sein Verhalten mit den rechtlichen Pflichten aus dem Mandatsverhältnis nicht vereinbar war. Er hielt sein Verhalten nur nicht für berufsrechtlich sanktioniert. Auf diese Fehleinschätzung aber kommt es für das Vorliegen eines Verbotsirrtums nicht an.
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V.
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Rechtliche Folgen der Tat
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Die Verhängung allein eines Verweises war nicht ausreichend, um das Fehlverhalten von Rechtsanwalt T2 angemessen zu ahnden. Es bedurfte auch der Verhängung einer Geldbuße (§ 114 Abs. 2 BRAO). Denn es war zu berücksichtigen, dass Rechtsanwalt T2 zwar nicht einschlägig, aber dennoch bereits berufsrechtlich in Erscheinung getreten ist, er auch zuletzt schon neben dem Verweis zu einer Geldbuße verurteilt wurde und es sich nicht nur um eine Angelegenheit der Eheleute T handelte, sondern um derer drei. Die jetzt ausgeurteilte Geldbuße von 2000.-€ ist daher notwendig, aber auch ausreichend, um die (tateinheitliche) Pflichtverletzung angemessen zu ahnden.
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VI.
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Kosten
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Die Kostenentscheidung fußt auf § 197 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1 BRAO.

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