LG Wuppertal, Urteil vom 29. Januar 2003 – 19 O 403/02
Zur Haftung für Fallenlassen eines wertvollen Gegenstandes durch Erschrecken
Tenor
Der Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 6.500,11 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz seit dem 14.12.2001 zu zahlen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Beklagte.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
Die Sicherheitsleistung darf auch durch unbefristete selbstschuldnerische Bürgschaft einer deutschen Bank oder Sparkasse erbracht werden.
Tatbestand
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Die Klägerin macht Schadensersatzansprüche aufgrund eines Vorfalls vom 14.09.2001 geltend. Der Beklagte war an diesem Tag Gast auf der Geburtstagsfeier der Klägerin. Gegen 20.00 Uhr interessierte er sich für eine im Wohnzimmerschrank der Klägerin stehende Korbschale. Der Beklagte nahm die Schale aus dem Schrank heraus und hielt sie in seinen Händen, um sie zu begutachten. Der Beklagte hielt die Schale noch in seinen Händen, als plötzlich ein Luftballon, der zu Dekorationszwecken aufgehängt worden war, zerplatzte. Hierdurch erschreckt ließ der Beklagte die Schale fallen. Die Korbschale zerbrach in 40 Scherben. Bei der Korbschale handelte es sich um ein wertvolles Erbstück, das die Klägerin von einer verstorbenen Tante erhalten hatte.
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Der Wert der zerstörten Korbschale wurde durch die Porzellanwerkstatt S. – K. am 18.10.2001 mit 6.391,15 EUR (12.500,00 DM) beziffert. Für die Begutachtung wurden 88,96 EUR in Rechnung gestellt. Weiterhin macht die Klägerin eine Auslagenpauschale in Höhe von 20,00 EUR geltend.
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Die Haftpflichtversicherung DEVK des Beklagten lehnte mit Schreiben vom 20.12.2001 eine Regulierung des Schadens ab.
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Die Klägerin ist der Ansicht, der Beklagte sei zum Ersatz des Schadens verpflichtet. Sie behauptet, sie habe ihn ausdrücklich ermahnt, die Schale an ihrem Platz stehen zu lassen. Dennoch habe der Beklagte die Schale in die Hand genommen. Daraufhin habe sie ihn nochmals ermahnt, vorsichtig mit der Schale umzugehen.
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Die Klägerin beantragt,
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den Beklagten zu verurteilen, an sie 6.500,11 EUR nebst 5 % Zinsen über dem Basiszinssatz nach § 1 DÜG ab dem 14.12.2001 zu zahlen.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Er ist der Ansicht, dass eine willentliche Handlung seinerseits nicht vorgelegen habe. Er habe aufgrund einer durch äußere Einwirkung – das Zerplatzen des Luftballons – ausgelösten Reflexhandlung die Schale fallen gelassen. Dies sei keine Handlung im Sinne des Deliktsrechts.
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Wegen der Einzelheiten des Parteivorbringens wird Bezug genommen auf die gewechselten Schriftsätze einschließlich der Anlagen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Der Klägerin steht ein Schadensersatzanspruch im zugesprochenen Umfang aus §§ 823 Abs. 1, 249 ff BGB zu.
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Die gemäß § 823 Abs. 1 BGB erforderliche Rechtsgutverletzung ist durch die Zerstörung der Korbschale eingetreten.
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Der Beklagte hat die Schale fallen gelassen, als er sich durch das Zerplatzen eines Luftballons erschreckte. Eine Verletzungshandlung im deliktischen Sinne ist jedes menschliche Tun, das der Bewusstseinskontrolle und der Willenssteuerung unterliegt, also beherrschbar ist. Entgegen der Ansicht des Beklagten ist das Fallenlassen der Schale aufgrund seines Erschreckens nicht als Reflexbewegung, sondern als sogenannte Schreckreaktion einzuordnen, bei der die Handlungsqualität bejaht wird.
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Zur Feststellung, ob dem Verhalten des Beklagten Handlungsqualität zuzusprechen ist, ist auf die im Strafrecht vertretenen Handlungskriterien zurückzugreifen. Aufgrund der Nähe der Grundgedanken einer deliktischen Haftung zur strafrechtlichen Verantwortlichkeit ist die Heranziehung der strafrechtlichen Kriterien zur Bestimmung der Handlungsqualität sachlich geboten. Beide Rechtsgebiete erfordern für das Vorliegen einer Handlung eine willkürliche Bewegung.
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Das Fallenlassen der Korbschale stellt eine typische sogenannte Schreckreaktion dar. Bei dieser entstehen aus der Tiefe der Persönlichkeit ausbrechende Primitivreaktionen (sinnlose Ersatzhandlungen oder Handlungslähmungen) so schnell und unmittelbar, dass die sogenannte Ich-Funktion als Kontrollinstanz erst gar nicht in Aktion treten kann (Spiegel DAR 1968, 290). Danach ist die Frage, ob die betreffende Schreckhandlung in ihrer äußeren Beschaffenheit auch Inhalt des Wollens ist, der Täter als ihr So-Sein kennt, für den Handlungsbegriff nicht von Bedeutung. Sie ist vielmehr im Bereich des Verschuldens zu prüfen. Dabei wird jedoch nicht ausgeschlossen, dass das Erschrecken grundsätzlich von solcher Intensität sein kann, dass eine totale Handlungsunfähigkeit eintreten kann. Dies ist am Einzelfall zu prüfen und vorliegend abzulehnen. Die Luftballons waren zu Dekorationszwecken aufgehängt und für jeden Gast erkennbar. Gleichfalls muss auf einer Feier damit gerechnet werden, dass der eine oder andere Ballon durch Zerplatzen kaputt geht, sei es, dass dieses von Gästen aus Spaß provoziert wird, sei es, dass ein Ballon aus anderen Gründen zerplatzt. Es ist davon auszugehen, dass der Betrachter eines Luftballons bereits beim Bemerken eines solchen auf einer Feier die latente Gefahr des Zerplatzens in sein Bewusstsein aufnimmt. Das Geräusch eines zerplatzenden Luftballons mag für den Beklagten in dem Moment unerwartet gewesen sein. Doch kann nicht davon ausgegangen werden, dass er sich dadurch in dem Maße erschreckt hat, dass bei ihm eine völlige Handlungsunfähigkeit aufgetreten sein könnte, denn er hatte die Luftballons bereits vor dem Schadenseintritt wahrgenommen und konnte daher – wenn auch unterbewusst – das Geräusch sogleich zuordnen.
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Eine Einordnung als Reflexhandlung, die die Handlungsqualität entfallen lassen kann, scheidet aus. Reflexhandlungen stellen nur dann keine Handlungen dar, wenn „die Erregung der motorischen Nerven nicht unter seelischem Einfluss steht“ (OLG Hamm, Urteil vom 16.07.1974, NJW 1975 Seite 657 f), sondern der körperliche Reiz sich unmittelbar vom Empfindungs- auf das Bewegungszentrum überträgt, so etwa der Fall bei unwillkürlichem Schließen der Augen unter dem Anprall eines Gegenstandes, beim Zusammenzucken unter einem Stromschlag oder bei ärztlichen Reflexprüfungen. Reflexhandlungen ist danach nur dann die Handlungsqualität abzusprechen, wenn sie „unwiderstehlich“ sind (vgl. Spendel, Leipziger Kommentar, § 323 a Rdnr. 170), nicht dagegen, wenn sie sich unterdrücken lassen, wie z.B. das Niesen auf Niesreiz, weil sich hier der Betroffene tatsächlich „zurückhalten“ kann und sich nicht so weit „gehen zu lassen“ braucht (OLG Celle NdsRpfl 1962, 288). Schon bei der Einordnung des Fallenlassens als Reflexhandlung wäre diese nicht als unwiderstehlich anzusehen gewesen, da es durchaus möglich ist, einen Gegenstand auch dann weiterhin festzuhalten, wenn sich eine Person aufgrund eines anderen Ereignisses erschreckt. Dies um so mehr, als dem Beklagten durchaus bewusst war, dass er einen kostbaren Gegenstand in den Händen gehalten hat, der im Regelfall von dem Haltenden dann gerade noch fester umklammert wird, damit der Schadensfall vermieden werden kann.
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Das Fallenlassen der Korbschale durch den Beklagten war ursächlich für die Zersplitterung der Schale in Einzelteile.
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Dem Beklagten fällt auch ein Verschulden im Sinne des § 276 Abs. 1 BGB zur Last. Er handelte fahrlässig, als er die Schale im Moment des Erschreckens zu Boden fallen ließ. Da er sich auf einer Geburtstagsfeier mit weiteren Gästen im Raum befand, musste ihm klar sein, dass das Begutachten der Schale ein erhöhtes Maß an Aufmerksamkeit erforderte. Da sich der Beklagte mit mehreren Menschen in einem Raum befand, die zudem noch miteinander feierten, musste ihm klar sein, dass er die Schale unter Umständen nicht ungestört begutachten konnte. Er musste damit rechnen, dass unerwartete Umstände, wie vorliegend z.B. das Zerplatzen des Luftballons, eintreten konnten. Unter diesen Bedingungen hätte er die Schale entweder bewusster festhalten müssen oder die Begutachtung der Schale von vornherein zumindest an einem Platz durchführen müssen, an dem er ungestört gewesen wäre. Da er dies nicht getan hat, handelte er fahrlässig.
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Da die Klageforderung der Höhe nach unstreitig ist, war der Klage in vollem Umfang stattzugeben.
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Der Zinsanspruch rechtfertigt sich aus dem Gesichtspunkt des Verzuges, §§ 284, 288 BGB.
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Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 709 ZPO.
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Streitwert: 6.500,11 EUR