Zur Haftung des Frachtführers nach nächtlichem Raubüberfall auf fahrenden Lkw in Süditalien

BGH, Urteil vom 13.11.1997 – I ZR 157/95

Ein Raubüberfall auf einen fahrenden Lastzug (hier: nächtlicher bewaffneter Überfall auf einen fahrenden Lkw in Italien) ist im allgemeinen unvermeidbar im Sinne von Art. 17 Abs. 2 CMR, sofern die konkreten Umstände des Einzelfalls nicht für eine Außerachtlassung der äußersten, einem besonders gewissenhaften Frachtführer bzw. Fahrer vernünftigerweise noch zumutbaren Sorgfalt sprechen.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor:

Auf die Revision der Beklagten und ihrer Streithelferin wird das Urteil des 21. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Köln vom 1. Juni 1995 aufgehoben.

Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil der 5. Kammer für Handelssachen des Landgerichts Köln vom 5. September 1994 wird zurückgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten der Rechtsmittel einschließlich der der Streithilfe.

Tatbestand

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Die Klägerin, Transportversicherer der U. GmbH, macht gegen die Beklagte, ein Speditionsunternehmen, aus abgetretenem und übergegangenem Recht wegen des Verlustes von Transportgut Schadensersatz geltend.

2
Die Versicherungsnehmerin der Klägerin beauftragte die Beklagte am 13. Januar 1993 zu festen Preisen mit der Beförderung von Reifen und Gummibändern von W. bei Aachen nach Matera in Süditalien. Die Ausführung des Transportes übertrug die Beklagte dem Transportunternehmen B. GmbH, das dem Rechtsstreit auf seiten der Beklagten nach deren Streitverkündung beigetreten ist. Der von der Streithelferin mit dem Transport betraute Fahrer M. wurde am 19. Januar 1993 zwischen 0.00 Uhr und 0.30 Uhr auf offener Straße zwischen Bari und Altamura in Apulien von drei Tätern mit Waffengewalt zum Anhalten und Aussteigen gezwungen. Das Transportgut im Werte von 125.157,45 DM wurde anschließend geraubt. Die Versicherungsnehmerin der Klägerin und die zwischengeschaltete E. Spedition GmbH haben ihre Schadensersatzansprüche an die Klägerin abgetreten.

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Die Klägerin begehrt mit der Klage Zahlung von 125.157,45 DM sowie Feststellung der Verpflichtung, ihre Versicherungsnehmerin von der Inanspruchnahme auf Zahlung italienischer Einfuhr- und Umsatzsteuer freizustellen oder ihr – der Klägerin – insoweit Ersatzleistungen zu erstatten. Sie hat die Auffassung vertreten, die Beklagte hafte für den eingetretenen Schaden nach Art. 17 Abs. 1 CMR, weil sie es leichtfertig unterlassen habe, die zur Verhinderung des Raubüberfalles gebotenen Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen. Insbesondere habe der Fahrer die gefährliche Strecke von Bari nach Altamura nicht nachts befahren dürfen. Er hätte vielmehr den vorgesehenen bewachten Autohof (bewachten Parkplatz) aufsuchen müssen und die Fahrt erst am anderen Morgen fortsetzen dürfen.

4
Die Beklagte und ihre Streithelferin sind dem entgegengetreten. Sie haben die Auffassung vertreten, der Raubüberfall auf den Fahrer M. sei ein unabwendbares Ereignis gewesen, so daß eine Haftung der Beklagten nach Art. 17 Abs. 2 CMR entfalle. Es sei dem Fahrer nicht zuzumuten gewesen, so kurz vor dem Ziel noch einen bewachten Autohof aufzusuchen, zumal auch dort Überfälle nicht auszuschließen seien.

5
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung der Klägerin hat das Berufungsgericht die Beklagte antragsgemäß verurteilt.

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Mit der Revision verfolgen die Beklagte und ihre Streithelferin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils. Die Klägerin beantragt die Zurückweisung der Revision.

Entscheidungsgründe

7
I.

Das Berufungsgericht hat der Zahlungsklage nach Art. 17 Abs. 1, Art. 23 Abs. 1 und 3 CMR i.V. mit § 398 BGB entsprochen und dem Feststellungsbegehren gemäß Art. 23 Abs. 4 CMR stattgegeben. Die Voraussetzungen für einen Haftungsausschluß nach Art. 17 Abs. 2 CMR hat es verneint. Dazu hat das Berufungsgericht ausgeführt:

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Ein Raubüberfall auf offener Straße sei zwar grundsätzlich unvermeidbar; spezielle Sicherheitsmaßnahmen wie der Einsatz eines zweiten Fahrers, das Fahren im Konvoi und ein individueller Begleitschutz könnten nicht verlangt werden. Gleichwohl sei der Schaden bei Anwendung der äußersten nach den Umständen möglichen Sorgfalt nicht unabwendbar gewesen. Der Fahrer M. hätte auf einem bewachten Autohof übernachten müssen und seine Fahrt erst am nächsten Morgen fortsetzen dürfen, weil die Straßen in Süditalien, jedenfalls bei Nacht, besonders gefährdet seien. Auf bewachten Parkplätzen könnten zwar auch Überfälle vorkommen; jedoch sei das Risiko insoweit deutlich geringer. Bei dem Vortrag der Beklagten, es habe sich nach den Umständen um einen lange im voraus geplanten Raubüberfall gehandelt, der durch eine Übernachtung auf dem bewachten Parkplatz nicht verhindert worden wäre, handele es sich nur um eine Vermutung, welche die Beklagte nicht entlasten könne, da ihr für dieses Vorbringen nach Art. 18 Abs. 1 CMR die Beweislast obliege.

9
Die Höhe ihres Schadens habe die Klägerin zutreffend nach Art. 23 Abs. 3 CMR berechnet. Die Begründetheit des Feststellungsantrags ergebe sich aus Art. 23 Abs. 4 CMR.

10
II.

Gegen diese Beurteilung wendet sich die Revision mit Erfolg.

11
1.

Das Berufungsgericht ist ohne Rechtsverstoß und von der Revision unbeanstandet davon ausgegangen, daß die Beklagte zumindest als Fixkostenspediteurin i.S. des § 413 Abs. 1 HGB anzusehen ist und als solche der Haftung nach der CMR unterliegt (vgl. BGH, Urt. v. 17.04.1997 – I ZR 131/95, TranspR 1998, 25, 26 = VersR 1998, 82; Herber/Piper, CMR, Art. 1 Rdn. 28 ff. m.w.N.).

12
Danach schuldet die Beklagte gemäß Art. 17 Abs. 1 i.V. mit Art. 3 CMR grundsätzlich Schadensersatz für den während der Obhutszeit der Streithelferin eingetretenen Verlust des Transportgutes. Der Frachtführer ist von dieser Haftung nach Art. 17 Abs. 2 CMR nur dann befreit, wenn der Schaden durch Umstände verursacht worden ist, die sowohl für ihn selbst als auch für seine Gehilfen (Art. 3 CMR) unvermeidbar waren und deren Folgen keine dieser Personen abwenden konnte.

13
a)

Das Berufungsgericht ist in Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Senats zutreffend davon ausgegangen, daß Unvermeidbarkeit i.S. von Art. 17 Abs. 2 CMR nur anzunehmen ist, wenn der Frachtführer darlegt und gegebenenfalls beweist, daß der Schaden auch bei Anwendung der äußersten, dem Frachtführer möglichen und zumutbaren Sorgfalt nicht hätte vermieden werden können (vgl. BGH, Urt. v. 28.02.1975 – I ZR 40/74, VersR 1975, 610; Urt. v. 05.06.1981 – I ZR 92/79, VersR 1981, 1030; Urt. v. 16.02.1984 – I ZR 197/81, TranspR 1984, 182 f. = VersR 1984, 551). Die Annahme des Berufungsgerichts, ein Raubüberfall auf einen fahrenden Lkw sei im allgemeinen unvermeidbar, begegnet danach keinen rechtlichen Bedenken (vgl. Österr. OGH, TranspR 1994, 282, 283; Cour de Cassation, Bull T 1988, 437; Koller, Transportrecht, 3. Aufl., CMR Art. 17 Rdn. 29 a.E.; MünchKommHGB-Basedow, CMR Art. 17 Rdn. 46 f.).

14
b)

Das Berufungsgericht hat eine Haftungsbefreiung zugunsten der Beklagten nach Art. 17 Abs. 2 CMR gleichwohl verneint. Es hat die Auffassung vertreten, der Fahrer M. hätte bei Anwendung der äußersten Sorgfalt auf einem bewachten Autohof übernachten müssen und erst am nächsten Morgen weiterfahren dürfen, weil die Straßen in Süditalien jedenfalls bei Nacht besonders gefährdet seien. Gegen diese Beurteilung wendet sich die Revision mit Erfolg.

15
aa)

Das Berufungsgericht ist davon ausgegangen, daß das Risiko eines Raubüberfalls auf einen fahrenden Lkw während einer Nachtfahrt auf süditalienischen Straßen gegenüber dem Abstellen des Fahrzeugs auf einem bewachten Parkplatz in Süditalien größer sei. Ob dem in dieser Allgemeinheit beigetreten werden kann, bedarf hier keiner Entscheidung. Denn das Berufungsgericht hat bei seiner Beurteilung verfahrensfehlerhaft wesentliche Gesichtspunkte außer acht gelassen.

16
bb)

Den Darlegungen des Berufungsgerichts kann schon nicht entnommen werden, auf welcher Grundlage es seine Feststellung getroffen hat. Es liegt daher nahe, daß es sich auf die allgemeine Lebenserfahrung hat stützen wollen. Dabei hätte das Berufungsgericht jedoch beachten müssen, daß sich der veröffentlichten Rechtsprechung zahlreiche Beispiele dafür entnehmen lassen, daß es auch auf bewachten Parkplätzen in Italien zu Diebstählen und Raubüberfällen auf stehende Fahrzeuge gekommen ist; fahrende Lkw wurden von den Tätern dagegen nur in wenigen Ausnahmefällen zum Anhalten gezwungen (vgl. die umfangreichen Nachweise bei Herber/Piper, CMR Art. 17 Rdn. 44 ff.; Koller, aaO, CMR Art. 17 Rdn. 29; MünchKommHGB-Basedow, CMR Art. 17 Rdn. 45 f.; Fremuth/Thume, CMR Art. 17 Rdn. 42, 47; Thume/Seltmann, CMR Art. 17 Rdn. 100 f., 105 f.). Überdies ist unberücksichtigt geblieben, daß ein fahrender schwer beladener Lkw angesichts der aufgrund der Fortbewegung auftretenden mechanischen Kräfte das Risiko eines gewaltsamen Überfalls erheblich vermindert. Erfahrungsgemäß gehört eine größere kriminelle Energie dazu, einen fahrenden Lkw zu stoppen und zu berauben.

17
Auch den Akten lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, daß die Nachtfahrt im konkreten Fall ein größeres Entwendungsrisiko für die Ladung dargestellt hat als das Übernachten auf einem bewachten Parkplatz. Gegen die Annahme des Berufungsgerichts, Voraussetzung für die Erfüllung der dem Frachtführer zumutbaren äußersten Sorgfalt wäre im Streitfall die Übernachtung auf einem bewachten Parkplatz gewesen, spricht vielmehr, daß das Transportgut – anders als in den Fällen, in denen zum Beispiel Textilien, Zigaretten oder elektronische Geräte befördert werden, welche sich leicht absetzen lassen und deshalb für die Täter besonders attraktiv sind – aus 15,8 t Reifen und Gummibändern bestand. Derartige Ware läßt sich nicht ohne weiteres absetzen, es sei denn, der Raub ist – wie die Revision mutmaßt – der organisierten Beschaffungskriminalität zuzurechnen. Dagegen bietet aber auch die vom Berufungsgericht für erforderlich gehaltene Sicherheitsvorkehrung erfahrungsgemäß kaum einen nachhaltigen Schutz.

18
Im Streitfall spricht gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts ferner, daß die Beklagte nach ihrem unwidersprochen gebliebenen Vortrag seit 14 Jahren die Durchführung von wöchentlich etwa 30 bis 40 Transporten nach Nord-, Mittel- und Süditalien organisiert, von denen drei bis fünf Fahrten nach Süditalien gehen. Während dieser Zeit ist es nach ihren Angaben – von dem hier in Rede stehenden Vorfall abgesehen – lediglich vor acht bis neun Jahren zu einem Überfall auf einem bewachten Parkplatz in der Nähe Roms gekommen. Das Berufungsgericht hätte auch nicht unberücksichtigt lassen dürfen, daß von der Autobahnabfahrt bis zum umzäunten und bewachten Hof der Empfängerin des Transportgutes in Matera nur noch rund 45 km zurückzulegen waren. Es ist nichts dafür ersichtlich, daß der Transport zur Nachtzeit auf der von dem Fahrer M. benutzten Landstraße risikoreicher war als das nächtliche Befahren anderer Straßen.

19
2.

Nach alledem kann der Senat aufgrund des unstreitigen Parteivortrags selbst entscheiden, daß der Verlust des Transportgutes für die Beklagte im Streitfall unvermeidbar war i.S. von Art. 17 Abs. 2 CMR. Es bestehen keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß ein besonders gewissenhafter Frachtführer bzw. Fahrer unter den konkret gegebenen Umständen bei Anwendung äußerster, ihm vernünftigerweise noch zumutbarer Sorgfalt von einer Transportdurchführung während der Nachtzeit abgesehen hätte. Auf die Rüge der Revision, das Berufungsgericht habe die Beweislast verkannt, kommt es unter diesen Umständen nicht mehr an.

20
Das Verlangen des Berufungsgerichts, entweder die Nachtruhe auf einem bewachten Parkplatz zu verbringen oder die Transportdurchführung so zu organisieren, daß eine Nachtfahrt auf italienischen Straßen vermieden wird, liefe letztlich auf die Forderung hinaus, in Italien auf Nachtfahrten ganz zu verzichten. Das kann den Transportunternehmen als Voraussetzung für eine Haftungsbefreiung nach Art. 17 Abs. 2 CMR nicht generell zugemutet werden. Die Beurteilung, ob der Frachtführer die zur Schadensabwendung gebotene äußerste ihm zumutbare Sorgfalt beobachtet hat, ist vielmehr davon abhängig, ob aufgrund der Einzelumstände – beispielsweise wegen der Art des beförderten Gutes – ein besonderes Raubrisiko bestanden hat. Das ist im Streitfall zu verneinen.

21
III.

Danach war das angefochtene Urteil auf die Revision der Beklagten und ihrer Streithelferin aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Landgerichts zurückzuweisen.

22
Die Kostenentscheidung beruht auf § 91 Abs. 1, § 97 Abs. 1 ZPO.

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