OVG Lüneburg, Beschluss vom 29.03.2019, 2 ME 395/19
Inklusiv an Regelschulen beschulte Schülerinnen und Schüler haben einen Anspruch auf adäquate Beschulung, der nicht durch eine unverhältnismäßige Ordnungsmaßnahme konterkariert werden darf. Insbesondere darf eine Ordnungsmaßnahme nicht den Charakter eines dauerhaften Schulausschlusses annehmen.
Tenor
Der Antragstellerin wird für das Beschwerdeverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt B. aus B-Stadt zur Vertretung beigeordnet.
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Hannover – 6. Kammer (Einzelrichter) – vom 20. März 2019 geändert.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 19. Februar 2019 wird angeordnet.
Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des gesamten Verfahrens.
Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.
Gründe
I.
1
Die Antragstellerin, die den 4. Schuljahrgang der Antragsgegnerin besucht, wendet sich gegen die Anordnung eines Ausschlusses vom Unterricht und von allen schulischen Veranstaltungen sowie die Androhung der Überweisung an eine andere Schule derselben Schulform.
2
Die Antragstellerin wird inklusiv beschult, da bei ihr ein sonderpädagogischer Förderbedarf im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung festgestellt worden ist. Nachdem diverse pädagogische Maßnahmen und Elterngespräche, die die Antragsgegnerin wegen der Arbeitsverweigerung der Antragstellerin und ihrer zahlreichen verbalen und körperlichen Übergriffe gegen Mitschülerinnen und Mitschüler sowie Lehrkräfte durchgeführt hatte, nicht zu einer Veränderung der Verhaltensweise geführt hatten, ordnete die Antragsgegnerin deswegen und insbesondere wegen eines am 23. November 2018 erfolgten tätlichen Übergriffs der Antragstellerin gegen eine Mitschülerin sowie wegen respektlosen Verhaltens gegenüber einer Lehrkraft nach vorheriger Beschlussfassung der Klassenkonferenz mit bestandskräftigem Bescheid vom 4. Dezember 2018 den Ausschluss der Antragstellerin vom Unterricht bis einschließlich 21. Dezember 2018 an.
3
Nachdem die Antragstellerin am 6. Februar 2019 gegenüber einer weiteren Mitschülerin, die ihre Cousine ist, tätlich übergriffig geworden war, ordnete die Antragsgegnerin mit Bescheid vom 19. Februar 2019 den Ausschluss der Antragstellerin vom Unterricht sowie von allen schulischen Veranstaltungen bis einschließlich 5. April 2019 an. Zur Begründung ist in diesem Bescheid im Wesentlichen angeführt, die Antragstellerin habe wiederholt den Schulfrieden gestört, provoziere, beleidige und bedränge ihre Mitschülerinnen und Mitschüler täglich. Gespräche mit Schülerhelfern, Sozialpädagogen und Lehrkräften zeigten keinerlei Wirkung und Nachhaltigkeit. Durch den erneuten tätlichen Angriff auf eine Mitschülerin sowie die fehlende Einsicht und Unehrlichkeit der Antragstellerin in nachfolgenden Gesprächen sei ein erneuter Schulverweis erforderlich, zumal das Sozialverhalten der Antragstellerin bereits häufig thematisiert worden sei und verschiedene Erziehungsmittel erfolglos geblieben seien. Mit Schreiben vom 20. Februar 2019 legte die Antragstellerin hiergegen Widerspruch ein.
4
Mit dem angefochtenen Beschluss hat das Verwaltungsgericht den Antrag der Antragstellerin auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes abgelehnt. Hiergegen führt die Antragstellerin ihre Beschwerde.
II.
5
Der Antragstellerin ist antragsgemäß Prozesskostenhilfe zu gewähren, weil sie sowie ihre Eltern ihre Bedürftigkeit nachgewiesen haben und die beabsichtigte Rechtsverfolgung – wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt – hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne des § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 Satz 1 ZPO bietet und die Rechtsverfolgung nicht mutwillig im Sinne der § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 2 ZPO erscheint.
6
Die mit Blick auf § 61 Abs. 4 Satz 3 Halbsatz 2 NSchG zulässige Beschwerde hat Erfolg. Die mit der Beschwerde dargelegten Gründe, auf deren Prüfung der Senat gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO beschränkt ist, führen zur Änderung des angegriffenen Beschlusses. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz zu Unrecht abgelehnt. Die Antragstellerin kann eine Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruches nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO beanspruchen, weil sich der angefochtene Bescheid der Antragsgegnerin vom 19. Februar 2019 bei der allein gebotenen summarischen Prüfung als rechtswidrig erweist.
7
Rechtsgrundlage für die angegriffene Ordnungsmaßnahme des Ausschlusses vom Unterricht sowie von außerunterrichtlichen Angeboten ist § 61 Abs. 3 Nr. 3 NSchG. Hiernach kann der Ausschluss für bis zu drei Monate angeordnet werden. Voraussetzung ist gemäß § 61 Abs. 4 Satz 1 NSchG, dass die Schülerin durch den Schulbesuch die Sicherheit von Menschen ernstlich gefährdet oder den Schulbetrieb nachhaltig und schwer beeinträchtigt hat. Der Senat sieht diese Voraussetzungen auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens der Antragstellerin mit dem Verwaltungsgericht als erfüllt an. Es kann dahinstehen, ob allein der Vorfall vom 6. Februar 2019 und die von der Antragstellerin an diesem Tag gezeigten Verhaltensweisen einen Unterrichtsausschluss für sich genommen rechtfertigen können. Es bedarf auch insbesondere keiner Entscheidung über die Hintergründe dieser Auseinandersetzung und die jeweiligen Verursachungsanteile der Antragstellerin und ihrer Cousine im Einzelnen. Die Antragsgegnerin und dem folgend das Verwaltungsgericht haben die Ordnungsmaßnahme entgegen der Ansicht der Antragstellerin nicht bloß auf diesen Vorfall gestützt, sondern zulässigerweise das Gesamtverhalten der Antragstellerin über einen längeren Zeitraum und dessen Folgen für den Schulbetrieb zugrunde gelegt. Aus der in den Verwaltungsvorgängen befindlichen zusammenfassenden Dokumentation der Schulleiterin vom 27. Februar 2019 ergeben sich deutliche Hinweise darauf, dass es der Antragstellerin seit längerem an einer altersentsprechenden Selbstdisziplin mangelt, sie den Unterricht massiv stört und sie ihre Mitschülerinnen und Mitschüler sowie die Lehrkräfte auf grob unangemessene und nicht hinnehmbare Weise verbal und tätlich angeht. Zusammenfassend ist der Senat daher mit dem Verwaltungsgericht der Ansicht, dass die strengen Anforderungen des § 61 Abs. 4 Satz 1 NSchG in diesem Fall erfüllt sind. In diesem Zusammenhang ist überdies darauf hinzuweisen, dass selbst für den Fall einer nicht sicheren Feststellung der Rechtmäßigkeit einer Ordnungsmaßnahme der hier im Streit stehenden Art die sofortige Vollziehbarkeit der Ordnungsmaßnahme kraft Gesetzes angeordnet ist und damit dem öffentlichen Vollzugsinteresse ein besonderes Gewicht zukommt (vgl. hierzu Senatsbeschl. v. 23.11.2018 – 2 ME 798/18 -, juris Rn. 6).
8
Vor diesem Hintergrund und weil sich die Antragstellerin auch unter dem Eindruck der bisherigen erzieherischen Mittel und Ordnungsmaßnahmen nicht zu einer durchgreifenden Änderung ihres Verhaltens veranlasst gesehen hat, durfte sich die Klassenkonferenz der Antragsgegnerin zu einem weiteren Ausschluss der Antragstellerin vom Unterricht entschließen. Es besteht aber nicht nur ein Stufenverhältnis zwischen der Auswahl der einzelnen in § 61 Abs. 3 NSchG abschließend aufgezählten Ordnungsmaßnahmen, sondern die Ordnungsmaßnahme muss auch für sich genommen unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten angemessen sein. Durchgreifende Zweifel bestehen aus Sicht des Senats daher an der angeordneten Dauer dieser Ordnungsmaßnahme. Der Senat verkennt nicht, dass sich die Schulen gerade im Fall von inklusiv beschulten Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf besonderen Herausforderungen gegenübersehen, wie der vorliegende Fall anschaulich zeigt. Gleichwohl darf der Anspruch der Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf auf adäquate Beschulung nicht durch eine unverhältnismäßige Handhabung von Ordnungsmaßnahmen konterkariert werden. Insbesondere darf eine Ordnungsmaßnahme nicht den Charakter eines dauerhaften Schulausschlusses annehmen. Angesichts der gesetzgeberischen Entscheidung in § 4 NSchG, die Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf grundsätzlich inklusiv in Regelschulen zu beschulen, ist es vielmehr vorrangig die Aufgabe der Niedersächsischen Landesschulbehörde, für die erforderliche Ausstattung und Unterstützung der Inklusivschulen zum Beispiel mit pädagogischem Personal Sorge zu tragen. Diesem Erfordernis wird aus Sicht des Senats im vorliegenden Fall ersichtlich nicht in hinreichendem Umfang Genüge getan. Im Fall der Antragstellerin sieht der Senat die Grenze des der Klassenkonferenz eingeräumten Ermessens mit Blick auf die Dauer des Unterrichtsausschlusses von rund sieben Wochen als überschritten an. Dabei kann dahinstehen, wo genau die zeitliche Grenze zu ziehen wäre, ab der der angeordnete Ausschluss vom Unterricht und von außerunterrichtlichen Angeboten unverhältnismäßig wird. Der Senat erachtet auch unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalles der Antragstellerin jedenfalls die hier gewählte Zeitspanne als unverhältnismäßig. Da der Senat insoweit nicht eigene Ermessenserwägungen anstellen kann, ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin insgesamt anzuordnen.
9
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 47 Abs. 1 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 2 GKG.