BGH, Urteil vom 17.12.1996 – VI ZR 133/95
Bei mangelhafter ärztlicher Beratung kann ein Mitverschulden des Patienten nur in Ausnahmefällen angenommen werden.
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Auf die Revision der Kläger wird das Urteil des 8. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 21. März 1995 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als hinsichtlich der Klage gegen die Beklagte zu 3) zum Nachteil der Kläger erkannt worden ist.
In diesem Umfang wird die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsverfahrens, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand
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Die Kläger haben die Beklagten zu 1) bis 3) auf Schadensersatz wegen des Unterhaltsmehraufwandes für ihr am 24. Mai 1988 mit einer Spina bifida (Neuralrohrdefekt) geborenes Kind in Anspruch genommen.
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Die Klägerin hatte, nachdem 1977 das mit einer Spina bifida belastete erste Kind noch während der Geburt gestorben war, in den folgenden Jahren zwei gesunde Kinder zur Welt gebracht.
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Am 7. Januar 1988 begab sich die Klägerin erstmals in die Behandlung der als Frauenärztin zugelassenen Beklagten zu 3). Diese überwies sie zur Mitbestimmung des Schwangerschaftsalters und wegen der Vorgeschichte der Klägerin zur Mitbehandlung in die vom Erstbeklagten betriebene S. Klinik in W. Am folgenden Tag suchte die Klägerin die Klinik auf, wo sie von dem dort als Oberarzt tätigen Zweitbeklagten behandelt wurde. Dieser führte nach einem Vorgespräch eine Ultraschalluntersuchung durch, die keinen krankhaften Befund ergab und aufgrund welcher er das Entwicklungsalter auf die 17. Schwangerschaftswoche festsetzte. Nach dieser Untersuchung sandte er an die Drittbeklagte einen Arztbrief, in dem es unter anderem heißt: “… meine ich, daß es ausreichend ist, das Alpha-Feto-Protein im mütterlichen Blut zu kontrollieren. Sollten sich in der Beurteilung Zweifel ergeben, wäre dann eine Amniozentese notwendig. Selbstverständlich sind zur Mißbildungsdiagnostik und zur Festlegung des Entbindungstermins kurzfristige Ultraschallkontrollen notwendig. Ich würde Sie daher gerne bitten, die Patientin nochmals in 14 Tagen zu einer Kontrolluntersuchung zu schicken.”
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In der Folgezeit führte die Drittbeklagte die Blutentnahme zur Alpha-Feto-Protein (AFP)-Bestimmung durch. Anläßlich des nächsten Vorsorgetermins am 26. Januar 1988 teilte die Drittbeklagte der Klägerin das Blutuntersuchungsergebnis mit. Weiterhin nahm sie eine Ultraschalluntersuchung zur Bestimmung des Schwangerschaftsalters vor. Darüberhinaus führte sie keine Ultraschalluntersuchungen durch.
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Am 25. Februar 1988 überwies die Drittbeklagte die Klägerin zum operativen Verschluß des Muttermundes in das Stadtkrankenhaus nach H.. Dort wurde am 7. März 1988 im Rahmen der Ultraschalluntersuchung die Verdachtsdiagnose einer Meningocele (mit Flüssigkeit gefüllte Ausstülpung der Rückenmarkshäute) gestellt, die in einer weiteren Untersuchung bestätigt wurde. Zu dieser Zeit befand sich die Klägerin in der 25. Schwangerschaftswoche. Zweieinhalb Monate später wurde das Kind durch primären Kaiserschnitt geboren.
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Die Kläger werfen den Beklagten zu 2) und 3) fehlerhafte Beratung vor. Bei zutreffender und vollständiger Beratung und Ausnutzung der diagnostischen Möglichkeiten wäre die Spina bifida frühzeitig erkannt worden. Die Klägerin hätte dann innerhalb der Frist des § 218 a Abs. 4 Satz 1 StGB einen Schwangerschaftsabbruch vornehmen lassen.
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Das Landgericht hat der auf Feststellung der Pflicht zum Ersatz allen materiellen Schadens gerichteten Klage gegen die Beklagten zu 1) und 3) stattgegeben und sie gegen den Beklagten zu 2) abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Ersatzpflicht der Drittbeklagten zu 2/3 festgestellt. Die weitergehende Klage gegen die Beklagte zu 3) hat es ebenso wie die gegen den Beklagten zu 1) gerichtete Feststellungsklage abgewiesen. Mit der Revision erstrebt die Beklagte zu 3) die vollständige Abweisung der Klage. Die Kläger begehren mit ihrem Rechtsmittel die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils. Der Senat hat die Revision der Beklagten zu 3) und die gegen den Beklagten zu 1) gerichtete Revision der Kläger nicht angenommen.
Entscheidungsgründe
I.
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Nach der Annahmeentscheidung des Senats geht es nur noch darum, ob das Berufungsgericht zu Recht der Feststellungsklage gegen die Drittbeklagte nur zu 2/3 stattgegeben und sie im übrigen wegen Mitverschuldens der Klägerin abgewiesen hat.
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Das Berufungsgericht ist der Auffassung, die Drittbeklagte habe ihre Beratungspflicht zum Ausschluß einer genetischen Schädigung der Leibesfrucht nicht ausreichend erfüllt. Sie habe, nachdem ihr das Ergebnis der AFP-Bestimmung vorlag, diese entweder in angemessenen Abständen vor Ablauf der 22-Wochenfrist wiederholen oder weitere Ultraschalluntersuchungen in kurzen Abständen durchführen lassen müssen. Angesichts des ihr bekannten hohen Risikos habe sie zu wenig getan, um der Klägerin noch vor Ablauf der legalen Schwangerschaftsabbruchfrist einen verantwortbaren Vorschlag zu machen. Es sei nicht bewiesen, daß sie den Brief des Zweitbeklagten in eindringlicher Weise mit der Klägerin besprochen habe. Entgegen der Auffassung der Drittbeklagten habe es nicht genügt, der Klägerin den Arztbrief zum Lesen zu geben. Sie habe sich vielmehr vergewissern müssen, ob ihre Patientin alles verstanden habe. Eine eindringliche Aufklärung über die möglichen Konsequenzen unterlassener weiterer Untersuchung sei unerläßlich gewesen.
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Ein Mitverschulden der Klägerin liegt nach Auffassung des Berufungsgerichts darin, daß diese den Empfehlungen des Arztbriefes nicht nachgekommen sei. Wenn die Drittbeklagte den Arztbrief der Klägerin nicht einmal zum Lesen gegeben, sondern ihr den Inhalt nur auszugsweise mitgeteilt habe, wovon nach dem eigenen Vorbringen der Klägerin ausgegangen werden müsse, dann habe die Klägerin nachfragen und zumindest eine Kopie des Arztbriefes verlangen müssen. Da es ihr um den Ausschluß einer von ihr befürchteten Mißbildung der Leibesfrucht gegangen sei, habe sie auf besserer Aufklärung beharren müssen und sich nicht mit einer oberflächlichen Information begnügen dürfen.
II.
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Die Ausführungen, mit denen das Berufungsgericht ein Mitverschulden der Klägerin bejaht hat, halten revisionsrechtlicher Überprüfung nicht stand.
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Grundsätzlich kann sich zwar auch der Arzt gegenüber dem Patienten, der ihn wegen fehlerhafter Behandlung und Beratung in Anspruch nimmt, darauf berufen, daß dieser den Schaden durch sein eigenes schuldhaftes Verhalten mitverursacht hat (BGHZ 96, 98, 100; Senatsurteil vom 30. Juni 1992 – VI ZR 337/91 – VersR 1992, 1229). Ein solches Mitverschulden liegt vor, wenn der Patient diejenige Sorgfalt außer acht gelassen hat, die ein ordentlicher und verständiger Mensch zur Vermeidung eigenen Schadens anzuwenden pflegt (Senatsurteil vom 30. Juni 1992 aaO). So muß von dem Patienten, der an den Heilungsbemühungen des Arztes mitzuwirken hat (BGHZ 96, 98, 100), etwa erwartet werden, daß er dessen Therapie- und Kontrollanweisungen befolgt (Senatsurteile vom 30. Juni 1992 aaO; vom 25. Juni 1985 – VI ZR 270/83 – VersR 1985, 1068, 1070; Deutsch, Arztrecht und Arzneimittelrecht 2. Aufl. S. 135).
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Mit Rücksicht auf den Wissens- und Informationsvorsprung des Arztes gegenüber dem medizinischen Laien ist jedoch bei der Bejahung mitverschuldensbegründender Obliegenheitsverletzungen des Patienten grundsätzlich Zurückhaltung geboten. In diesem Sinne hat der Senat schon wiederholt darauf hingewiesen, daß der Einwand des Mitverschuldens im Bereich der ärztlichen Aufklärung nur ausnahmsweise durchgreifen könne (Senatsurteile vom 4. November 1975 – VI ZR 226/73 – VersR 1976, 293, 294; vom 15. Mai 1979 – VI ZR 70/77 – VersR 1979, 720, 721; vgl. auch OLG Stuttgart mit NA-Beschluß des Senats vom 21. Oktober 1986 – VI ZR 9/86 – VersR 1987, 515, 518). Im Streitfall geht es zwar nicht um der Beklagten angelastete Aufklärungsversäumnisse im Rahmen der Eingriffsaufklärung, sondern um die Beratung über das weitere ärztliche Vorgehen (Behandlungs- bzw. Therapieaufklärung). Jedoch können auch im Rahmen einer solchen Beratungsbehandlung an die Mitwirkungspflichten des Patienten keine übertriebenen Anforderungen gestellt und kann ein Mitverschulden nur in Ausnahmefällen angenommen werden.
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Bei Zugrundelegung dieser Maßstäbe kann der Klägerin nach den bisherigen Feststellungen ein Mitverschulden nicht angelastet werden.
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a) Ein solches Mitverschulden ist entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts insbesondere nicht darin zu sehen, daß die Klägerin den Empfehlungen des Arztbriefes nicht nachgekommen ist. Die Nichtbefolgung ärztlicher Anweisungen oder Empfehlungen wäre zwar, wie bemerkt, grundsätzlich geeignet, den Mitverschuldenseinwand zu begründen. Dieser setzt jedoch voraus, daß die Klägerin über den Inhalt des Arztbriefes vollständig unterrichtet worden ist und sie die darin enthaltenen Empfehlungen auch verstanden hat. Diese Voraussetzungen hat das Berufungsgericht nicht festgestellt. Es geht im Gegenteil davon aus, daß die Drittbeklagte den Arztbrief der Klägerin nicht zum Lesen gab, sondern ihr dessen Inhalt nur auszugsweise mitteilte und daß die ihr zuteil gewordene Information deshalb unvollständig war. Worin die Unvollständigkeit bestand, hat es nicht näher dargelegt; insbesondere stellt das Berufungsgericht nicht fest, daß die Klägerin über die Notwendigkeit weiterer Untersuchungen unterrichtet worden ist. Infolgedessen kann ihr die Nichtbefolgung der in dem Arztbrief enthaltenen Empfehlungen nicht zum Vorwurf gemacht werden.
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b) Ebensowenig liegt ein Mitverschulden darin, daß die Klägerin nicht nachgefragt hat.
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Es ist grundsätzlich Sache des Arztes, den Patienten über die Notwendigkeit weiterer Maßnahmen vollständig zu unterrichten. Dabei muß er sich so ausdrücken, daß dieser seine Hinweise und Belehrungen auch versteht; davon hat er sich, wovon auch das Berufungsgericht ausgeht, zu vergewissern. Informationsdefizite kann der Arzt im allgemeinen nicht, auch nicht teilweise über ein Mitverschulden, dem Patienten anlasten. Ein Mitverschulden durch mangelndes Nachfragen käme allenfalls dann in Betracht, wenn sich die Unvollständigkeit der ärztlichen Information jedem Laien aufdrängen mußte oder dem Patienten aufgrund seines besonderen persönlichen Wissens die Unvollständigkeit der Unterrichtung klar sein mußte. Dahingehende Umstände hat das Berufungsgericht jedoch nicht festgestellt; sie sind auch nicht ersichtlich.
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c) Ein Mitverschulden der Klägerin liegt schließlich auch nicht darin, daß sie sich von dem Arztbrief keine Kopie hat geben lassen. Bei einem Arztbrief handelt es sich um eine vertrauliche Information von Arzt zu Arzt, deren Inhalt der Patient vom Arzt nicht erfragen muß. Es war Sache der Drittbeklagten, im Rahmen des Behandlungsvertrages mit der Klägerin die in dem Arztbrief angeratenen weiteren Maßnahmen zu erörtern.
III.
19
Nach alledem ist das angefochtene Urteil aufzuheben, soweit dem Feststellungsantrag in bezug auf die Beklagte zu 3) nur zu 2/3 stattgegeben worden ist. Eine abschließende Entscheidung ist dem Senat nicht möglich, da der Sachverhalt im Hinblick auf die Rügen der Revisionserwiderung weiterer Aufklärung bedarf. Die Beklagte zu 3) hat vorgetragen und unter Beweis gestellt, daß der Zweitbeklagte die Klägerin auch anläßlich der Untersuchung am 8. Januar 1988 eindringlich auf die Notwendigkeit weiterer kurzfristiger Ultraschallkontrollen zur Mißbildungsdiagnostik in der Klinik und eine später eventuell notwendige Amniozentese hingewiesen habe. In der Nichtbeachtung solcher Hinweise kann, wie die Revisionserwiderung der Drittbeklagten zu Recht geltend macht, ein Mitverschulden der Klägerin liegen. Dem Beweisangebot der Beklagten zu 3) wird das Berufungsgericht daher nachgehen müssen.