OLG Koblenz, Beschluss vom 14.12.2001 – 5 W 822/01
Auch in Arzthaftungssachen ist ein selbständiges Beweisverfahren zulässig (gegen OLG Köln, 21. August 1997, 5 W 57/97, MDR 1998, 224 und OLG Nürnberg, 13. November 1996, 1 W 3034/96, MDR 1997, 501).
(Leitsatz des Gerichts)
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Mainz vom 12. November 2001 aufgehoben:
Die Sache wird zu neuer Entscheidung – auch über die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens – an das Landgericht Mainz zurückverwiesen.
Das Landgericht wird angewiesen, den Antrag auf Beweissicherung nicht aus den Gründen des Beschlusses vom 12. November 2001 abzulehnen.
Gründe
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Die Parteien streiten über die Zulässigkeit eines selbständigen Beweisverfahrens (§ 485 ZPO) in Arzthaftungssachen. Dem liegt nach dem Vorbringen des Antragstellers folgender Sachverhalt zugrunde:
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Am 7. April 1999 suchte er wegen Herzbeschwerden den ärztlichen Notdienst auf. Der Notarzt diagnostizierte eine Speiseröhrenentzündung und entließ den Antragsteller in die hausärztliche Weiterbehandlung. Am 24. April 2000 erlitt der Antragsteller einen Hinterwandinfarkt, der alsbald zu einem apallischen Syndrom führte. Der Antragsteller ist seitdem nicht mehr in der Lage, seine eigenen Angelegenheiten zu besorgen; er steht unter Betreuung. Mit seinem Antrag auf Beweissicherung erstrebt er die Klärung, ob er zwischen dem 7. April 1999 und dem 24. April 2000 fehlerhaft behandelt worden ist.
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Einer entsprechenden Rüge des Antragsgegners folgend hat das Landgericht den Antrag auf Durchführung eines selbständigen Beweisverfahrens als unzulässig abgelehnt und zur Begründung auf die Entscheidungen der Oberlandesgerichte Köln (MDR 1998, 224) und Nürnberg (MDR 1997, 501) verwiesen.
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Dagegen wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, der das Landgericht nicht abgeholfen hat.
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Das zulässige Rechtsmittel hat einen vorläufigen Erfolg. Es führt zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung an das Landgericht (§§ 575, 538 Abs. 1 Nr. 2 ZPO). Denn die Abweisung des Beweissicherungsantrags als unzulässig begegnet durchgreifenden Bedenken.
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Die Frage, ob bei fehlender Zustimmung des Gegners (§ 485 Abs. 1 erste Alternative ZPO) in Arzthaftungssachen ein selbständiges Beweisverfahren zulässig ist (§ 485 Abs. 1 zweite Alternative und Abs. 2 ZPO) wird allerdings in Rechtsprechung (bejahend: OLG Saarbrücken, 13.5.1999, 1 W 125/99-16, NJW 2000, 3439 L, MDR 1999, 496, VersR 2000, 891; OLG Düsseldorf, 12.1.2000, 8 W 53/99, NJW 2000, 3438, OLGR 2001,145; OLG Karlsruhe, VersR 1999, 887; OLG Düsseldorf, MDR 1998, 1241; OLG Stuttgart, 6.10.1998, 14 W 7/98, NJW 1999, 874, MDR 1999, 482, VersR 1999, 1018 L; OLG Düsseldorf, 18.9.1995, 8 W 23/95, MedR 1996, 132; OLG Schleswig, 19.12.2000, OLGR 2001, 279 f; verneinend: OLG Nürnberg MDR 1997, 501 und OLG Köln MDR 1998 224 mit Anm. Rehborn MDR 1998, 16 und Literatur (vgl. Mohr in MedR 1996,454; Rinke/Balser in MedR 1999,398; Schinnenburg in MedR 2000, 185,187) kontrovers diskutiert.
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Anders als das Landgericht, das der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte Nürnberg und Köln gefolgt ist, hält der erkennende Senat die Rechtsansicht, nach der ein selbständiges Beweisverfahren in Arzthaftungssachen bei fehlender Zustimmung des Gegners grundsätzlich unzulässig ist, nicht für zutreffend.
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Nach § 485 Abs. 1 ZPO (zweite Alternative) ist bei fehlender Zustimmung des Gegners gleichwohl neben der Vernehmung von Zeugen die Begutachtung durch einen Sachverständigen statthaft, wenn zu besorgen ist, dass das Beweismittel verloren geht oder seine Benutzung erschwert wird. Weitere Zulässigkeitsvoraussetzungen kennt das Gesetz nicht. Vor diesem Hintergrund kann sich nach Auffassung des Senats die Zulässigkeit eines selbständigen Beweisverfahrens in Arzthaftungssachen unter Umständen bereits aus § 485 Abs. 1 ZPO ergeben:
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Schlagen die Bemühungen eines Zahnarztes bei der zahnprothetischen Versorgung eines Patienten fehl, wird dieser häufig aus billigenswerten Gründen bemüht sein, den beanstandeten Zahnersatz alsbald entfernen und anderweitig ersetzen zu lassen. In einem derartigen Fall kann eine Beweissicherung nach § 485 Abs. 1 zweite Alternative ZPO in Betracht kommen.
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Zu denken ist außerdem an einen lebensbedrohlichen Zustand des Patienten oder eines Zeugen, der zum alsbaldigen Tod und damit auch zum endgültigen Verlust der Möglichkeit führen kann, mit stärkerer Beweiskraft den noch lebenden Patienten zu untersuchen oder den Zeugen persönlich zu befragen.
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Der Frage, ob die Beweissicherung im vorliegenden Fall wegen des Gesundheitszustandes des Klägers nach § 485 Abs. 1 ZPO statthaft ist, musste das Landgericht jedoch nicht nachgehen, weil auch das Beschwerdevorbringen dafür keine zureichenden Anhaltspunkte bietet. Durch die Zurückverweisung erhält der Antragsteller allerdings Gelegenheit, erforderlichenfalls sein Vorbringen insoweit zu ergänzen.
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Die Auffassung des Landgerichts, der somit zu prüfende § 485 Abs. 2 ZPO erlaube in Arzthaftungssachen grundsätzlich kein selbständiges Beweisverfahren, überzeugt nicht. Zutreffend hat bereits das Oberlandesgericht Düsseldorf (NJW 2000, 3438) darauf hingewiesen, dass der Gesetzgeber weder nach dem Wortlaut noch nach der Entstehungsgeschichte des § 485 Abs. 2 ZPO Arzthaftungssachen aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift ausgeklammert hat. Auch eine teleologische Reduktion der Vorschrift ist insoweit nicht geboten:
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Richtig ist zwar, dass in Arzthaftungssachen meist auch andere Wege der außergerichtlichen Streitbeilegung, insbesondere das Schlichtungsverfahren vor den Gutachter – und Schlichtungsstellen der Ärztekammern zur Verfügung stehen. Das ist jedoch ohne Einfluss auf die Zulässigkeit eines selbständigen Beweisverfahrens. Denn aus dem Umstand, dass einem Patienten kumulativ mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stehen, kann nicht gefolgert werden, einer dieser Wege habe Vorrang oder schließe gar den anderen aus.
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Dass das Ergebnis eines selbständigen Beweisverfahrens nach § 485 Abs. 2 ZPO sich in Arzthaftungssachen häufig als unzureichend oder gar unerheblich erweist, ist ein Risiko, das der betroffene Patient mit den Antragstellern anderer Verfahren teilt. Ein Gutachten im selbständigen Beweisverfahren kann sich auch in anderen Sachgebieten als nutzlos erweisen, weil der Antragsteller einseitig formulierte Fragen in den Vordergrund gestellt hat, die sich im späteren Rechtsstreit im Anschluss an eine sorgfältige Sachaufklärung durch das Prozessgericht als nicht entscheidungserheblich erweisen. Gegebenenfalls kann das für den Antragsteller die einschneidende Kostenfolge des § 96 ZPO haben. Aus alledem kann jedoch nicht gefolgert werden, ein wenig sinnvolles oder letztlich sogar überflüssiges gerichtliches Verfahren sei von vornherein unzulässig.
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Die angefochtene Entscheidung konnte daher keinen Bestand haben. Der Senat hat von der Möglichkeit Gebrauch gemacht, die Sache an das Landgericht zurückzuverweisen (§ 575 ZPO), damit dort im einzelnen geprüft wird, ob und gegebenenfalls welche der vom Antragsteller formulierten Beweisthemen die Anordnung des erstrebten Sachverständigenbeweises rechtfertigen.
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Insoweit gibt der Senat – insbesondere dem Antragsteller – folgendes zu bedenken:
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Das Antragsvorbringen ist unzureichend. Allenfalls dem Gesamtzusammenhang der Antragsschrift ist zu entnehmen, dass der Antragsgegner nicht der am 7. April 1999 behandelnde Notarzt war, sondern als der nachbehandelnde Hausarzt in Anspruch genommen werden soll. Falls diese Mutmaßung des Senats unzutreffend ist, wird der Antragsgegner dies im weiteren Verfahren bei dem Landgericht richtig stellen müssen.
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Schwerer wiegt, dass der Antragsteller keinerlei medizinische Befundtatsachen vorgetragen hat, aus denen sich sein Zustand am 7. April 1999 ergibt. Gleiches gilt für die Behandlung des Antragstellers zwischen dem 7. April 1999 und dem 24. April 2000. Daher ist beim gegenwärtigen Verfahrensstand abzusehen, dass ein Sachverständiger mangels geeigneter Anknüpfungstatsachen keine der Beweisfragen wird beantworten können. Die dem Antragsteller anscheinend vorschwebende Amtsermittlung ist auch im Verfahren nach § 485 ZPO nicht statthaft.
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Sofern der Antragsteller diesen Bedenken nicht durch ergänzenden Sachvortrag, insbesondere durch Vorlage der maßgeblichen Behandlungsunterlagen aus dem genannten Zeitraum Rechnung tragen kann, sollte er prüfen, ob er den Antrag in der bisherigen Form aufrechterhält.
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Allerdings ist – verfahrensökonomisch – auch daran zu denken, dass der Antragsgegner die in seinem Besitz befindlichen Krankenunterlagen zur Begutachtung durch den Sachverständigen vorlegt. Denn der Senat – zugleich als Entschädigungssenat des Oberlandesgerichts vielfach mit medizinischen Fragen befasst – hält es nach dem bisher mitgeteilten Sachverhalt für denkbar, dass ein Sachverständigengutachten auf der Grundlage der Behandlungsunterlagen zu dem Ergebnis führt, dass die gegen den Antragsgegner erhobenen Vorwürfe nicht gerechtfertigt sind. Gegebenenfalls könnte auch diese Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen (§ 485 Abs. 2 Satz 2 ZPO).
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Letztlich sollten die anwaltlich beratenen Beteiligten auch erneut prüfen, ob die vom Haftpflichtversicherer des Antragsgegners vorgeschlagene Überprüfung durch eine Schlichtungsstelle (Schreiben vom 11. September 2001 – Bl. 10 GA) nicht der bessere Weg zur Sachaufklärung ist. Gegebenenfalls könnte vergleichsweise vom Ergebnis der Schlichtung auch abhängig gemacht werden, wer die Kosten des vorliegenden Verfahrens zu tragen hat.
22
Vor einer abschließenden Entscheidung sollte das Landgericht den Beteiligten Gelegenheit geben, zu den angesprochenen Fragen Stellung zu nehmen.
23
Gerichtskosten sind nicht zu erheben (Nr. 1953 KV).
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Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens obliegt dem Landgericht, weil noch nicht abzusehen ist, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang dem Antrag auf Beweissicherung letztendlich stattgegeben werden muss.