BGH, Urteil vom 28. April 2008 – II ZR 264/06
BGH entscheidet zur Haftung von Gesellschaftern wegen existenzvernichtenden Eingriffs.
I. Der Kläger ist Insolvenzverwalter in dem im Juni 2003 eröffneten Insolvenzverfahren über das Vermögen der G.-Gesellschaft für Personalentwicklung und Qualifizierung mbH (nachfolgend: Schuldnerin). Deren Gesellschafter sind die drei Beklagten, der Beklagte zu 1 ist zugleich ihr einziger Geschäftsführer. Die Beklagten zu 2 und 3 sind seit Anfang 2002 aufgrund eines Beteiligungserwerbs auch Gesellschafter der S.-GmbH, die seitdem sämtliche Kommanditanteile an der in wirtschaftliche Schwierigkeiten geratenen B.-KG hält. Als die B.-KG wegen ihrer finanziellen Krise Arbeitnehmer entlassen musste, vereinbarte sie im März 2002 mit dem Betriebsrat in einer Betriebsvereinbarung/Sozialplan zur Vermeidung von Arbeitslosigkeit im Zusammenhang mit den notwendigen Personalanpassungsmaßnahmen die Gründung und den Betrieb einer betriebsorganisatorisch eigenständigen Einheit in Form einer Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft (nachfolgend: BQG). Die Tätigkeit dieser BQG – für die von vornherein die mit einem Stammkapital von 25.000,00 € gegründete Schuldnerin vorgesehen war – sollte vornehmlich durch öffentliche Gelder, insbesondere Strukturkurzarbeitergeld und Qualifizierungsmittel nach SGB III finanziert werden; die verbleibenden, auf ca. 25.000,00 € monatlich für die Laufzeit von höchstens zwei Jahren veranschlagten sog. Remanenzkosten – bestehend aus den Sozialversicherungsbeiträgen auf das Kurzarbeitergeld, der Aufstockung des Nettoverdienstes auf zunächst 100 % und später auf 80 % des ursprünglichen Verdienstes der Mitarbeiter sowie dem Urlaubs- und Feiertagsentgelt – sollten von der B.-KG getragen werden. Auf dieser Basis schlossen insgesamt 21 Arbeitnehmer die zum Übertritt in die BQG notwendigen dreiseitigen Verträge, mit denen sie ihre Arbeitsverhältnisse zur B.-KG auflösten und zugleich neue Arbeitsverhältnisse mit der Schuldnerin begründeten.
In der Folgezeit wurden die bei der Schuldnerin im Rahmen der Entlohnung der übernommenen Arbeitnehmer anfallenden laufenden Remanenzkosten zunächst vereinbarungsgemäß von der B.-KG beglichen, bis diese schließlich im November 2002 wegen Zahlungsunfähigkeit Antrag auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens stellte. Da der Anspruch der Schuldnerin gegen die B.-KG auf Leistung der Remanenzkosten für die übernommenen Arbeitnehmer entgegen der Branchenüblichkeit weder über einen unabhängigen Treuhänder noch durch Bankbürgschaft oder sonstige gleichwertige Sicherheit abgesichert war und die Schuldnerin entsprechend ihrem speziellen Unternehmensgegenstand als BQG nicht über sonstige Einkünfte zur Deckung dieser Kosten verfügte, musste sie Anfang 2003 ebenfalls Insolvenzantrag stellen; der Beklagte zu1 hatte als Geschäftsführer ab Ende November bis zu diesem Zeitpunkt noch Zahlungen an diverse Empfänger im Gesamtumfang von 42.215,72 € zu Lasten der Schuldnerin geleistet.
Der Kläger verlangt als Insolvenzverwalter von den Beklagten in ihrer Eigenschaft als Gesellschafter der Schuldnerin primär aus dem Gesichtspunkt der Haftung wegen existenzvernichtenden Eingriffs bzw. materieller Unterkapitalisierung Zahlung des im Insolvenzverfahren offen gebliebenen Betrages von 148.390,09 €. Das Landgericht hat der Klage auf dem Wege des Haftungsdurchgriffs wegen materieller Unterkapitalisierung stattgegeben; das Oberlandesgericht hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und dabei eine Haftung der Beklagten wegen existenzvernichtenden Eingriffs für gegeben erachtet. Mit der von dem Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgen die Beklagten ihr Klageabweisungsbegehren weiter.
II. 1. Der II. Zivilsenat des BGH hat vor dem Hintergrund der jüngst neu strukturierten sog. Existenzvernichtungshaftung (vgl. Sen.Urt. v. 16. Juli 2007 – II ZR 3/04, BGHZ 173, 246 – TRIHOTEL) im vorliegenden Fall eine Innen-Haftung der Beklagten als Gesellschafter gegenüber der Schuldnerin wegen existenzvernichtenden Eingriffs gemäß § 826 BGB verneint. Denn das – ihnen nach den Feststellungen des Berufungsgericht anzulastende – Versäumnis, im Rahmen der dreiseitigen Verträge den Anspruch der Schuldnerin gegen die B.-KG auf Zahlung der sog. Remanenzkosten für die Aufstockung des Strukturkurzarbeitergeldes zugunsten der übernommenen Arbeitnehmer für deren maximale Verweildauer bei der Schuldnerin entsprechend den branchenüblichen Gepflogenheiten gegen eine vorzeitige Insolvenz der B.-KG abzusichern oder absichern zu lassen, stellt schon begrifflich keinen „Eingriff“ in das zweckgebundene, den Gläubigern als Haftungsfonds dienende Gesellschaftsvermögen dar. Das Unterlassen der gebotenen Absicherung steht einem Eingriff in den zweckgebundenen Haftungsfonds im Sinne eines Verstoßes gegen die Pflicht zur Respektierung der Zweckbindung dieses Vermögens zur vorrangigen Befriedigung der Gesellschaftsgläubiger während der Lebensdauer der GmbH nicht gleich; durch dieses Unterlassen ist das Stammkapital der Schuldnerin von den Beklagten nicht angetastet worden.
2. Die Beklagten haften dem Kläger in ihrer Eigenschaft als Gesellschafter für die Befriedigung der im Insolvenzverfahren offen gebliebenen Drittgläubigerforderungen gegen die Schuldnerin auch nicht auf der Grundlage eines speziellen Haftungsinstituts der Haftung des GmbH-Gesellschafters wegen (materieller) Unterkapitalisierung der GmbH. Eine derartige Haftung wegen unzureichender Kapitalisierung der Gesellschaft sei es in Form zu geringer Eigenkapitalausstattung, sei es in Gestalt einer allgemeinen Mangelhaftigkeit der Vermögensausstattung im weitesten Sinne ist weder gesetzlich normiert noch durch höchstrichterliche Rechtsfortbildung als gesellschaftsrechtlich fundiertes Haftungsinstitut anerkannt. Vielmehr ist nach Auffassung des II. Zivilsenats eine sachgerechte Lösung des Problems der materiellen Unterkapitalisierung nach wie vor allenfalls in einer Heranziehung der deliktischen Generalnorm der sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung nach § 826 BGB im Einzelfall zu sehen.
3. Als Ansprüche gegen die Beklagten als Gesellschafter im Zusammenhang mit der ihnen vorgeworfenen Unterlassung der Absicherung der Remanenzkostenansprüche gegen Insolvenz der insoweit leistungspflichtigen B.-KG kamen im vorliegenden Fall allerdings nur solche in Betracht, die den betroffenen, bei Eingehung der dreiseitigen Verträge – nach dem insoweit zu unterstellenden Vorbringen des Klägers – durch Verschweigen arglistig getäuschten Arbeitnehmern aus Delikt (§§ 826, 830 BGB) oder aus Verschulden bei Vertragsschluss (§ 311 Abs.3 BGB) jeweils individuell zustehen und zu deren klageweiser Geltendmachung auch während des Insolvenzverfahrens über das Vermögen der Schuldnerin nur sie selbst, nicht hingegen der hier klagende Insolvenzverwalter berechtigt ist. Entsprechendes gilt für die aus diesen Pflichtwidrigkeiten der Beklagten gegenüber den Arbeitnehmern resultierenden „sekundären“ Ansprüche der Sozialversicherungsträger/Arbeitsverwaltung und des Finanzfiskus.
4. Demgemäß hat der BGH nunmehr das Berufungsurteil aufgehoben und die Klage, soweit sie gegen die Beklagten zu 2 und 3 gerichtet war, endgültig abgewiesen. Lediglich hinsichtlich des Beklagten zu 1 musste die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an einen anderen Senat des Berufungsgericht zurückverwiesen werden, damit dieser über die vom Kläger hilfsweise gegen den Beklagten zu 1 in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer verfolgten Haftungsansprüche aus § 43 Abs. 2 GmbHG und wegen Masseschmälerung aus § 64 Abs. 2 GmbHG entscheidet.
Quelle: Pressemitteilung Bundesgerichtshof