Zur Haftung eines Schülers für Verletzung einer Mitschülern durch Werfen eines Knallkörpers

OLG Hamm, Urteil 20. Januar 2004 – 9 U 151/03

Zur Haftung eines Schülers wegen Verletzung einer Mitschülerin durch Werfen eines Knallkörpers in ihre Richtung während der Schulzeit.

Tenor

Die Berufung der Klägerin gegen das am 02 Juli 2003 verkündete Urteil der 8. Zivilkammer des Landgerichts Hagen wird zurückgewiesen.Die Kosten des Rechtsmittels werden der Klägerin auferlegt.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe
I.

Die am 17.03.1986 geborene Klägerin und der am 19.11.1987 geborene Beklagte sind Schüler der H-Schule in Q.

Am Morgen des 18.01.2002 befanden sich die Parteien gegen 7.10 Uhr neben vielen anderen Schülern an der Bushaltestelle C. Hierbei handelt es sich um die unmittelbar vor dem Schulzentrum Q gelegene Bushaltestelle, an der sowohl Linienbusse der örtlichen Verkehrsbetriebe als auch Schulbusse halten, wobei die Haltestelle nicht Teil des Schulgeländes ist.

Der Beklagte befand sich in einer Gruppe von Schülern, die mit Knallkörpern hantierten. Im weiteren Verlauf des Geschehens flog ein Knallkörper auf die Klägerin zu und explodierte in unmittelbarer Nähe ihres linken Ohres. Insoweit ist unstreitig, dass der Beklagte den Knallkörper in Richtung der Klägerin katapultiert hat. Streit besteht dahin, in welcher Art er dies getan hat (Wurf oder Heruntertreten des auf einem Poller abgestellten Böllers) und ob der Beklagte absichtlich den Knallkörper in Richtung der Klägerin katapultiert hat.

Die Klägerin erlitt infolge des Ereignisses einen Tinnitus links.

Sie hat behauptet, der Beklagte habe bewusst den Böller in die Personengruppe geworfen. Sie hat die Ansicht vertreten, eine Haftungsfreistellung nach dem SGB VII greife nicht ein. Erstinstanzlich hat sie ein Schmerzensgeld von 10.000 EUR für angemessen erachtet.

Der Beklagte hat bestritten, bewusst den Böller in Richtung der Klägerin geworfen zu haben. Er hat gemeint, es habe sich um einen Schulunfall gehandelt, dieser sei von der Haftungsfreistellung umfasst.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Es hat die Voraussetzungen der §§ 104 Abs. 1, 105 Abs. 1 SGB VII bejaht. Die Ausnahmetatbestände seien nicht gegeben. Eine vorsätzliche Handlung des Beklagten sei nicht festzustellen, insbesondere nicht, dass der Beklagte die ernsthafte und dauerhafte Verletzung der Klägerin gewollt habe. Auch liege kein Wegeunfall vor, weil die Inanspruchnahme von Schulbussen seitens der Schüler mit den Verhältnissen des Werksverkehrs vergleichbar sei.

Mit der Berufung verfolgt die Klägerin ihr Klageziel weiter, wobei sie in der zweiten Instanz ein Schmerzensgeld von 15.000 EUR für angemessen hält. Sie greift die von dem Landgericht angenommene Haftungsfreistellung des Beklagten als rechtsfehlerhaft an. Weiter seien angebotene Beweise fehlerhaft nicht erhoben worden.

II.

Die zulässige Berufung ist unbegründet.

Die Klägerin hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Zahlung von Schmerzensgeld und Feststellung der künftigen Ersatzpflicht von immateriellen Schäden aus dem Ereignis vom 18.01.2001 an der Bushaltestelle C in Q.

1.

Die Voraussetzungen einer unerlaubten Handlung nach §§ 823, 847 BGB a.F. liegen zwar vor, Täterschaft des Beklagten und Rechtsgutverletzung der Klägerin sind zwischen den Parteien unstreitig.

2.

Zugunsten des Beklagten greift aber die Haftungsfreistellung des § 105 Abs. 1 S. 1 SGB VII ein.

a)

Die Zivilgerichte sind bei der Frage, ob ein Versicherungsfall vorliegt, an die Entscheidung des Sozialversicherungsträgers gebunden, § 108 Abs. 1 SGB VII. Eine Entscheidung des Sozialversicherungsträgers ist im vorliegenden Fall noch nicht ergangen. Gleichwohl ist das Verfahren nicht gemäß § 108 Abs. SGB VII bis zur endgültigen Entscheidung auszusetzen , um widersprechende Entscheidungen zu verhindern, weil die zivilrechtliche Entscheidung der Haftungsfreistellung auch ohne eine bindende Entscheidung des Sozialversicherungsträgers allein aufgrund der vom Senat zu prüfenden Fragen getroffen werden kann:

Nach § 106 Abs 1 SGB VII gelten die §§ 104, 105 SGB VII in den Schulen entsprechend, d.h. sie sind gedanklich auf die besondere Situation in der Schule umzuformen, also ihre Auslegung den Eigenheiten des Schulbetriebes so anzupassen, dass die Zweckbestimmung der Haftungsablösung auch in „Schulfällen“ zum Tragen kommt (st. Rspr. BGH VersR 1992, 854; Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht, VersR 2002, 238 m.w.N.). Hiernach ist, wenn ein Schüler einen anderen verletzt, für die Haftungsbefreiung darauf abzustellen, ob die Verletzungshandlung „schulbezogen“ war, d.h. ob sie auf der typischen Gefährdung aus engem schulischen Kontakt beruht und deshalb inneren Bezug zum Besuch der Schule aufweist oder ob sie nur „bei Gelegenheit“ des Schulbesuches erfolgt ist (BGH a.a.O). Dabei ist es nicht entscheidend, ob die Verletzungshandlung innerhalb des Schulgeländes stattgefunden hat. Ausreichend ist, wenn die konkrete Verletzungshandlung durch die Besonderheit des Schulbetriebes geprägt wird, was in der Regel eine engere räumliche Nähe zum Schulbetrieb voraussetzt (BGH a.a.O).

Im Streitfall hat die Verletzungshandlung an einer Haltestelle unmittelbar vor dem Schulgelände stattgefunden.

Die Situation stellt sich nach dem Vortrag der Parteien so dar, dass Schüler regelmäßig an der Bushaltestelle vor Schulbeginn verweilen, um dort die Ankunft bekannter und befreundeter Mitschüler abzuwarten und dann gemeinsam anschließend das Schulgelände aufzusuchen. So wartete die Klägerin am Unfalltag auf ihre Freundin, während der Beklagte – eingebunden in eine Schülergruppe – mit andern mit Knallkörpern hantierte. Der gemeinsame Aufenthalt von Schülern vor und auf dem Schulgelände vor Unterrichtsbeginn ist schultypisch und allein durch den Umstand des gemeinsamen Schulbesuchs begründet. Die so geschaffenen Kontakte der Schüler untereinander und eine daraus folgende eigentümliche Gruppendynamik wird durch den Schulbetrieb geprägt und ist deshalb schulbezogen. Daran ändert der Umstand, dass Gegenstände, wie Knallkörper, die in der Schule grundsätzlich nichts zu suchen haben, nichts. Nicht selten dürfte der Reiz, gefährliche Dinge mitzubringen und auch zur Wirkung zu bringen durch das schultypische, sonst nicht so anzutreffende Sozialgefüge stimuliert sein. Der Senat hat daher mit dem Landgericht keine Bedenken, eine Schulbezogenheit der Verletzungshandlung festzustellen. Dabei wird nicht übersehen, dass der 27. Zivilsenat (Urteil vom 12.01.93 – 27 U 181/92 veröffentlicht inVersR 1994, 500) eine Schulbezogenheit einer Verletzungshandlung verneint hat, bei der eine Mitschülerin in einer Telefonzelle durch einen dort hinein geworfenen Knallkörper verletzt worden war. Eine Vergleichbarkeit jenes Vorfalls mit dem hier zur Entscheidung stehenden liegt nicht vor. Dort hatte sich das Schadensereignis nämlich nach Schulschluss ereignet, also in einem Augenblick, indem die „betriebliche“ Verbundenheit der Schüler grundsätzlich nicht mehr gegeben war. Eine gleichwohl noch fortwährende schultypische Gruppensituation hatte der Senat – anders als hier – gerade nicht feststellen können.

b)

Eine Haftung des Beklagten kommt deshalb nur dann in Betracht, wenn die aus den vorstehenden Erörterungen gegebene grundsätzliche Haftungsfreistellung wieder entsperrt wäre.

aa)

Eine Haftungsentsperrung nach § 105 Abs. 1 S.1 SGB VII wegen vorsätzlichen Handelns des Beklagten kommt nicht in Betracht.

Der Schädiger kann sich nämlich auf das Haftungsprivileg der §§ 104, 105 SGB VII berufen, selbst wenn er zwar vorsätzlich gehandelt hat, der eingetretene Schaden indes von seinem Vorsatz nicht umfasst war. Eine Entsperrung der Haftung tritt in diesem Fall, wie schon unter der Geltung der §§ 636, 637 RVO, nicht ein. Die Ablösung der §§ 636 ff. RVO durch die §§ 104 ff. SGB VII mit dem Gesetz zur Einordnung des Rechts der gesetzlichen Unfallversicherung in das Sozialgesetzbuch (Unfallversicherungs-Einordnungsgesetz – UVEG – vom 7. August 1996, BGBl. I 1254) hat an diesem Verständnis des ursprünglichen Vorsatzbegriffs nichts geändert. Den Grund für diese Einschränkung hat die Rechtsprechung darin gesehen, dass der Schädiger den Schutz durch die gesetzliche Unfallversicherung nicht schon dann verlieren soll, wenn er überhaupt eine Verletzungshandlung begangen hat, sondern nur dann, wenn er mit der Herbeiführung des Unfalls den Schaden in besonders vorwerfbarer Weise angerichtet hat, so dass eine Schadensabnahme durch die Versichertengemeinschaft als nicht mehr vertretbar erscheint. Speziell für den Bereich der Schulunfälle hat die Rechtsprechung die Notwendigkeit einer solchen Sichtweise betont. Spielereien und Raufereien von Kindern und Jugendlichen, bei denen die Zufügung von Schmerzen häufig gewollt ist oder zumindest billigend in Kauf genommen wird, gehören zu den typischen durch die Schulsituation bedingten Verhaltensweisen. Die Beteiligten beabsichtigen dabei in der Regel nicht, einander ernsthafte und dauerhafte Verletzungen zuzufügen, zu denen es gleichwohl gelegentlich kommen kann. Die Folgen solch typischer Schulunfälle sollen dem jeweiligen Schädiger aber durch die Unfallversicherung gerade abgenommen werden, nicht zuletzt im Interesse des Schulfriedens und des ungestörten Zusammenlebens von Lehrern und Schülern in der Schule (BGH VersR 2003, 595). Auch die Änderung des Wortlauts der §§104 Abs. 1, 105 Abs. 1 SGB VII gegenüber den §§ 636, 637 RVO rechtfertigt eine Änderung der Rechtslage nicht. Insbesondere hinsichtlich der hier zu beurteilenden Gruppe von Schulunfällen hat sich an den Gründen für die einschränkende Auslegung des Vorsatzmerkmals in den genannten Vorschriften nichts geändert. Gegenseitige Verletzungshandlungen von Schülern bei Spielereien, Raufereien und übermütigem und bedenkenlosem Handeln während der Abwesenheit von Aufsichtspersonen, die ohne den Willen zur Zufügung eines größeren Körperschadens erfolgen, gehören nach wie vor zum Schulalltag. Derartige Verhaltensweisen beruhen auf dem natürlichen Spieltrieb und – gerade auch bei Schülern im Pubertätsalter – auf einem typischen Gruppenverhalten; sie gehören somit gerade zu den spezifischen Gefahren des „Betriebs“ Schule, um deretwillen der Unfallversicherungsschutz der Schüler besteht. Wollte man in diesen Fällen, in denen es durch die unglückliche Verkettung von Zufällen zu schwereren Verletzungen von Mitschülern kommt, bereits die vorsätzliche Tathandlung für die Entsperrung der Haftung ausreichen lassen, liefe das Haftungsprivileg gerade bei dieser Gruppe typischer Schulunfälle vielfach leer (vgl. BGH a.a.O.).

Nach diesem Maßstab kann ein Vorsatz des Beklagten nicht festgestellt werden. Die Anhörung der Parteien im Senatstermin hat dafür keinen Anhalt ergeben. Die Klägerin selbst hat nicht bestätigt, dass der Beklagte den Böller zielgerichtet in ihre Richtung geworfen hat. Sie hat angegeben, sie habe lediglich gesehen, dass der Böller aus der Gruppe kam. Demgegenüber hat der Beklagte geschildert, dass er den Böller mit dem Fuß von einem Poller getreten habe, er die Klägerin nicht gesehen habe und jedenfalls den Knallkörper nicht zielgerichtet weg befördert habe.

Eine Vernehmung des Zeugen X kommt nicht in Betracht. Dieser ist lediglich Zeuge vom Hörensagen und in die Ermittlung des äußeren Schadensablaufs eingebunden gewesen. Dass er Feststellungen zur subjektiven Tatseite getroffen hätte oder hätte treffen können, ist nicht ersichtlich. Der objektive Tatbestand allein läßt keine Schlussfolgerung dafür zu, der Beklagte habe die Klägerin bewußt schädigen wollen.

bb)

Eine Haftungsentsperrung kommt auch nicht deshalb in Betracht weil es sich um eine Wegeunfall nach § 8Abs. 2 Nr. 1 -4 SGB VII gehandelt hat.

Wegeunfälle sind von der Haftungsbeschränkung ausgenommen worden, weil die betrieblichen Risiken dort keine Rolle spielen und den Versicherten unter diesen Voraussetzungen möglicherweise bestehende Ansprüche nicht abgeschnitten werden sollen. Für die Unterscheidung, ob der Versicherungsfall bei einem – in die Haftungsbeschränkung des § 104 Abs. 1 Satz 1 SGB VII einbezogenen – Betriebsweg oder einem – von der Haftungsbeschränkung ausgenommenen – nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 bis 4 SGB VII versicherten Weg eingetreten ist, kann hinsichtlich der Kriterien innerbetrieblicher Vorgänge die zu § 636 Abs. 1 Satz 1 RVO ergangene Rechtsprechung herangezogen werden. Denn es ging auch bei der Abgrenzung des innerbetrieblichen Vorgangs gegenüber der „Teilnahme am allgemeinen Verkehr“ darum, ob sich ein betriebliches Risiko oder ein „normales“ Risiko verwirklichte, das nach dem Willen des Gesetzgebers aus Gründen der Gleichbehandlung nicht zu einem Haftungsausschluss gegenüber dem Schädiger führen sollte ( BGH VersR, 2001, 335).

Der Unfall der Klägerin ist hier als Unfall auf einem Betriebsweg – und damit nicht als Unfall auf einem nach § 8 Abs. 2 Nr. 1 – 4 SGB VII versicherten Weg einzuordnen.

Zwar ist grundsätzlich die Fahrt eines Schülers zur Schule Privatsache. Hier war die Fahrt zur Schule aber bereits beendet. Der Unfall ereignete sich in unmittelbarer Nähe zu dem Schulgelände vor Unterrichtsbeginn. Eine Vielzahl weiterer Schüler war bereits vor Ort. Es fand eine Gruppenbildung verschiedener Schüler statt, die Klägerin wartete auf ihre Freundin, um dann gemeinsam mit ihr das Schulgelände zu betreten. Dies sind -wie oben angeführt – Erscheinungsformen, die zu den schultypischen Vorgängen zählen. Kommt es in einer solchen Situation zu einer Verletzung eines Schülers realisiert sich ein „betriebliches“ Risiko und eben kein „normales“ Risiko.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 I S. 1 ZPO, die Entscheidung über die Vollstreckbarkeit auf § § 708 Nr. 10, 711, 713. Gründe für eine Zulassung der Revision nach § 543 Abs. 2 ZPO liegen nicht vor.

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