Oberlandesgericht Köln, Urteil vom 22.08.2008 – 1 U 59/07
Haftungsverteilung bei Kollision eines mit weit überhöhter Geschwindigkeit fahrenden Motorradfahrers mit einem auf der Fahrbahn in drei Zügen wendenden PKW
Tenor:
Auf die Berufung der Kläger wird das Urteil der Einzelrichterin der 5. Zivilkammer des Landgerichts Köln vom 20.07.2007 – 5 O 24/07 – unter Zurückweisung des weitergehenden Rechtsmittels teilweise abgeändert und insgesamt wie folgt neu gefasst:
Die Beklagten werden verurteilt, als Gesamtschuldner an die Kläger einen Betrag in Höhe von 2.404,52 € sowie weitere 219,93 €, jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 28.11.2006 zu zahlen. Im Übrigen bleibt die Klage abgewiesen.
Von den Kosten des Rechtsstreits erster Instanz tragen die Kläger 94 %, die Beklagten 6 %.
Die Kosten des Berufungsverfahrens werden den Klägern zu 87 % und den Beklagten zu 13 % auferlegt.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Gründe:
I.
Die Parteien streiten um Ansprüche auf Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld aufgrund eines Verkehrsunfalls, der sich am 05.08.2006 gegen 9.30 Uhr auf der C. Straße in L. ereignete und an dem der – bei dem Unfallereignis tödlich verletzte – h. Staatsangehörige N., der Sohn des Klägers zu 1) und der Klägerin zu 2) sowie der Bruder der Klägerinnen zu 3) und 4), als Fahrer seines Motorrads Marke M. sowie der Beklagte zu 1) als Fahrer und Halter des bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten PKW S. beteiligt waren.
Der Beklagte zu 1) bestieg zum Unfallzeitpunkt seinen stadtauswärts gesehen am rechten Fahrbahnrand der C. Straße in Höhe des Hauses Nummer 380 b geparkten PKW, um auszuparken und zugleich auf der Straße in drei Zügen zu wenden und die Fahrt anschließend stadteinwärts fortzusetzen. Der Motorradfahrer N. befuhr die C. Straße stadtauswärts. Vor Beginn des Ausparkens, mit dem er zugleich das Wendemanöver einleitete, schaute der Beklagte zu 1) nach rechts und links und fuhr, da er aus beiden Richtungen keinen Verkehrsteilnehmer herannahen sah, auf die Fahrbahn. Dort kollidierte sein Fahrzeug auf der – stadtauswärts gesehen – rechten Richtungsfahrbahn mit dem Motorrad des verstorbenen N., dessen Bremsausgangsgeschwindigkeit zwischen 92 und 116 km/h lag; die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit an der Unfallstelle betrug 50 km/h. Der Motorradfahrer erlitt aufgrund des Unfallgeschehens Wirbelbrüche sowie eine Thoraxverletzung. Er wurde nach dem Unfall noch an der Unfallstelle bewusstlos, konnte in der Folgezeit zwar noch reanimiert werden, verstarb aber sodann um 12.15 Uhr im Krankenhaus an den Unfallfolgen.
Mit der Klage haben die Kläger als Erben des verstorbenen N. auf der Grundlage einer ihres Erachtens bestehenden Alleinhaftung des Beklagten zu 1) verschiedene Schadensersatzansprüche sowie einen Schmerzensgeldanspruch gegen die Beklagten geltend gemacht. Im Einzelnen haben sie die Zahlung rückständiger sowie künftiger Geldrente in Höhe von monatlich mindestens 593,53 € an die Klägerin zu 2), die Zahlung von Beerdigungs- und sonstigen Kosten im Gesamtumfang von 19.618,09 €, eines angemessenen Schmerzensgeldes an die Kläger als Erben (nach der Vorstellung der Kläger: 7.500,00 €) sowie die Zahlung nicht anrechnungsfähiger vorprozessualer Anwaltskosten in Höhe von 779,65 € begehrt. Wegen der Einzelheiten der Berechnung der Klageforderung wird auf die Darlegung in der Klageschrift vom 22.01.2007 (Blatt 5 bis 9 GA) und wegen der weiteren Einzelheiten des erstinstanzlichen Vorbringens der Parteien auf die Darstellung im erstinstanzlichen Urteil Bezug genommen.
Mit dem angefochtenen Urteil hat das Landgericht die Klage insgesamt abgewiesen und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt, bei der nach § 17 StVG vorzunehmenden Abwägung der wechselseitigen Verursachungsbeiträge überwiege das grob fahrlässige Fehlverhalten des tödlich verunglückten Motorradfahrers, der die zulässige Höchstgeschwindigkeit nahezu um das Doppelte überschritten habe, den Verursachungsbeitrag des Beklagten zu 1), der beim Ausparken seiner Verpflichtung zur wiederholten Rückschau (§§ 9, 10 StVO) nicht genügt habe, in so starkem Maße, dass für einen Haftungsbeitrag des Beklagten zu 1) kein Raum mehr sei. Wegen der weiteren Einzelheiten der tatsächlichen Feststellungen des Landgerichts wird gemäß § 540 Abs. 1 Nr. 1 ZPO auf die Ausführungen im angefochtenen Urteil Bezug genommen.
Hiergegen wenden die Kläger sich mit dem Rechtsmittel der Berufung, in dessen Rahmen sie ihre erstinstanzlichen Anträge einschließlich des Schmerzensgeldbegehrens lediglich noch unter Berücksichtigung einer hälftigen Mithaftungsquote des tödlich verunglückten Motorradfahrers weiterverfolgen.
Die Kläger beantragen,
unter Abänderung des angefochtenen Urteils nach den erstinstanzlichen Schlussanträgen einschließlich des Schmerzensgeldantrages zu erkennen, jedoch mit der Maßgabe, dass von einer 50%igen Mithaftungsquote des Geschädigten N. auszugehen ist.
Die Beklagten beantragen,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigen die angefochtene Entscheidung mit Ausführungen zur Tatsachen- und Rechtslage.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Berufungsvorbringens der Parteien wird auf die in der Berufungsinstanz gewechselten Schriftsätze verwiesen.
Der Senat hat Beweis erhoben gemäß Beweisbeschluss vom 14.03.2008 (Blatt 110 f. GA) durch Einholung eines mündlichen Sachverständigengutachtens des Sachverständigen Diplom-Ingenieur B.. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 13.06.2008 (Blatt 127 bis 132 GA) Bezug genommen.
II.
Die zulässige Berufung hat in der Sache lediglich in geringem Umfange Erfolg.
1. Allerdings steht den Klägern, abweichend von der Auffassung des Landgerichts, gegen die Beklagten aufgrund des streitgegenständlichen Unfallgeschehens vom 05.08.2006 gemäß §§ 7, 18 StVG in Verbindung mit § 17 Abs. 1 und 2 StVG, § 3 PflVG dem Grunde nach ein Anspruch auf Schadensersatz zu, wobei die wechselseitigen Haftungsbeiträge der Unfallbeteiligten im Verhältnis von 75 % zu Lasten des Motorradfahrers N. und 25 % zu Lasten des Beklagten zu 1) zu verteilen sind. Der Senat verkennt hierbei nicht, dass den Motorradfahrer, der die an der Unfallstelle zulässige Höchstgeschwindigkeit zumindest um nahezu das Doppelte überschritten hat, der Vorwurf einer groben Pflichtverletzung trifft. Diese führt jedoch, anders als das Landgericht gemeint hat, in Abwägung mit den vom Beklagten zu 1) zu beachtenden gesteigerten Sorgfaltspflichten nicht dazu, dass der Haftungsbeitrag des Beklagten zu 1) hinter dem groben Fehlverhalten des Motorradfahrers N. vollständig zurücktritt. Vielmehr ist der in der Betriebsgefahr des Pkw S. zuzüglich eines – allenfalls – geringen Verschuldens des Beklagten zu 1) liegende Verursachungsbeitrag auf Beklagtenseite mit einem Haftungsanteil von 25 % zu gewichten. Im Einzelnen gilt zum Anspruchsgrund dabei Folgendes:
Im rechtlichen Ausgangspunkt spricht gegen den Beklagten zu 1), der sowohl vom rechten Fahrbahnrand anfahren als auch unmittelbar anschließend auf der Fahrbahn wenden wollte und deshalb im Verhältnis zum fließenden Verkehr auf der C. Straße die gesteigerten Pflichten zur Rücksichtnahme aus § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO zu beachten hatte, der Beweis des ersten Anscheins für einen schuldhaften Verkehrsverstoß. Nach § 9 Abs. 5 StVO ist ein Wendemanöver nur zulässig, wenn dabei eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer „ausgeschlossen“ ist. Beim Wenden ist daher das äußerste Maß an Sorgfalt anzuwenden, damit der fließende Verkehr nicht gefährdet wird (vgl. Geigel/Zieres, Der Haftpflichtprozess 24. Aufl. Kap. 27 Rn. 296). Bei einem Zusammenstoß des Wendenden mit dem fließenden Verkehr spricht grundsätzlich der Anscheinsbeweis für ein Fehlverhalten des Wendenden als Unfallursache; ihn trifft im Allgemeinen die Alleinhaftung (vgl. OLG Saarbrücken MDR 2005, 1287; Geigel/Zieres a. a. O. Rn. 300; s. auch die Nachweise bei Grüneberg, Haftungsquoten bei Verkehrsunfällen 10. Aufl. 2007, S. 260). Im Ergebnis nichts anderes folgt aus § 10 Satz 1 StVO, wonach der vom Fahrbahnrand Anfahrende sich dabei so zu verhalten hat, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer „ausgeschlossen“ ist. Sowohl § 9 Abs. 5 StVO als auch § 10 Satz 1 StVO erlegen dem Wendenden bzw. Anfahrenden die Verpflichtung auf, sich erforderlichenfalls einweisen zu lassen. Aus der Kumulation dieser beiden – bereits jeweils für sich gesteigerten – Sorgfaltspflichten ergab sich für den Beklagten zu 1) die straßenverkehrsrechtliche Pflicht zu einem Höchstmaß an Aufmerksamkeit und Sorgfalt bei dem von ihm beabsichtigten, besonders gefährlichen Anfahr- und Wendemanöver.
Indes ist der gegen den Beklagten zu 1) sprechende Anscheinsbeweis im Streitfall durch die – feststehende – ganz erhebliche Geschwindigkeitsüberschreitung auf Seiten des Motorradfahrers, der bei einer Bremsausgangsgeschwindigkeit von mindestens 92 km/h die zulässige Höchstgeschwindigkeit (§ 3 Abs. 3 StVO) jedenfalls um mehr als 80 % überschritten hatte, entkräftet (vgl. BGH VersR 1985, 989; Geigel/Zieres a. a. O. Rn. 300). Da zudem weder für den Motorradfahrer, der nach dem im Ermittlungsverfahren 150 Js 536/06 StA Köln erstatteten schriftlichen Gutachten des Sachverständigen B. vom 22.08.2006 (Blatt 64 ff. BA) bei Einhaltung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit die Kollision deutlich hätte vermeiden können (Blatt 75 ff. BA), noch – aus den bereits vom Landgericht im angefochtenen Urteil angeführten und durch das Berufungsvorbringen nicht entkräfteten Gründen – für den Beklagten zu 1) der Unabwendbarkeitsnachweis aus § 17 Abs. 3 StVG zu führen ist, muss nach § 17 Abs. 1, 2 StVG eine Abwägung der wechselseitigen Verursachungsanteile vorgenommen werden, wobei im Rahmen der Bestimmung der Haftungsquoten nach ständiger Rechtsprechung nur solche Tatsachen Berücksichtigung finden können, die erwiesenermaßen unfallursächlich geworden sind (vgl. OLG Saarbrücken a. a. O.; KG NZV 2007, 306).
Nach dem wechselseitigen Sachvortrag der Parteien, dem vorprozessual im Ermittlungsverfahren 150 Js 536/06 StA Köln erstatteten schriftlichen Gutachten des Sachverständigen B. vom 22.08.2006 sowie den ergänzenden mündlichen Erläuterungen des Sachverständigen anlässlich seiner Anhörung in der Berufungsinstanz steht zur Überzeugung des Senats fest, dass einerseits den tödlich verunglückten Motorradfahrer N. der Vorwurf einer schuldhaften, ganz erheblichen Geschwindigkeitsüberschreitung trifft, während zu Lasten des Beklagten zu 1) neben der Betriebsgefahr seines Fahrzeugs allenfalls ein geringes Verschulden hinsichtlich der von ihm zu beachtenden Sorgfaltsgebote aus § 9 Abs. 5, § 10 StVO zu berücksichtigen ist. Selbst unter Berücksichtigung eines – etwaigen – Verschuldens ergibt sich danach auf Seiten des Beklagten zu 1) kein über 25 % hinausgehender Haftungsanteil:
Nach dem unstreitigen Sachverhalt hat der Beklagte zu 1), bevor er mit dem Ausparken und dem Wenden begann, erst nach links – also stadteinwärts, das heißt in die Richtung, aus der der Motorradfahrer kam – und sodann nach rechts geschaut. Einen nochmaligen Blick nach links tragen die Beklagten selbst nicht vor. Nach den überzeugenden und von keinem Verfahrensbeteiligten in Zweifel gezogenen Feststellungen des Sachverständigen B. in seinem im Ermittlungsverfahren erstatteten schriftlichen Gutachten vom 22.08.2006 bestand für den Beklagten zu 1) nach hinten durch den linken Außenspiegel eine Sichtentfernung von 120 Metern (Blatt 77 BA). Ausgehend hiervon hat der Sachverständige es im schriftlichen Gutachten als möglich (Blatt 77 BA) beziehungsweise wahrscheinlich (Blatt 76, 79 BA) bezeichnet, dass der Motorradfahrer beim ersten Blick nach hinten für den Beklagten zu 1) noch nicht erkennbar war. Dagegen hat er es für „wahrscheinlich“ erachtet, dass das Motorrad sichtbar gewesen wäre, wenn der Beklagte zu 1) vor dem Losfahren ein weiteres Mal nach hinten gesehen hätte (Blatt 76, 79 BA). Diese Einschätzung hat der Sachverständige anlässlich seiner mündlichen Anhörung durch den erkennenden Senat bestätigt und weiter konkretisiert. Er hat hierzu auf der Grundlage eigener Untersuchungen an der Unfallstelle insbesondere ausgeführt, der Beklagte zu 1) hätte, wenn er beim Losfahren aus der Parklücke beständig nach links geschaut hätte, den herannahenden Motorradfahrer gesehen; denn irgendwann sei der zunächst nicht sichtbare Motorradfahrer mit Rücksicht auf den Straßenverlauf wahrnehmbar gewesen. Wäre der Beklagte zu 1) langsam, etwa im Sinne eines Vorrollens mit Schrittgeschwindigkeit oder darunter, vom Straßenrand angefahren, hätte er möglicherweise zu einem Zeitpunkt stoppen können, in dem der PKW S. sich zur Hälfte auf der für den Motorradfahrer rechten Fahrspur, auf der dieser herannahte, befand. Der Motorradfahrer hätte dann gegebenenfalls den PKW noch wahrnehmen und hierauf durch ein Ausweichmanöver reagieren können, zumal die Bremsspur des Motorradfahrers sich auf seiner Richtungsfahrbahn relativ weit links, also zur Straßenmitte hin befunden habe.
In diesem Zusammenhang geht der Senat zunächst in rechtlicher Hinsicht davon aus, dass den Beklagten zu 1) beim Ausparken und Wenden auf der Fahrbahn eine Pflicht zur erneuten Rückschau, das heißt also insbesondere nicht nur zu jeweils lediglich einem Blick nach links und rechts, sondern vielmehr zur dauernden Verkehrsbeobachtung in beide Richtungen traf. Dass beim ersten Blick nach hinten für den Beklagten zu 1) in dem für ihn überschaubaren Sichtbereich von 120 Metern den Erläuterungen des Sachverständigen zufolge noch kein Motorrad erkennbar war, befreite den Beklagten zu 1) nicht von der Verpflichtung, bei Einleitung und Durchführung des Wendemanövers den Verkehrsraum auf der C. Straße auch weiterhin zu beobachten. Auszugehen ist hierbei von der Regel, dass die durch § 9 Abs. 5 StVO vorgeschriebene äußerste Vorsicht regelmäßig Umblick, Rückschau nicht nur durch den Rückspiegel und ständige Beobachtung nach beiden Richtungen erfordert (vgl. Hentschel, Straßenverkehrsrecht 38. Auflage, § 9 StVO Rn. 50). Dieser Verpflichtung werden jeweils ein Blick nach rechts und links nicht gerecht. Hinzu kommt, dass der PKW des Beklagten zu 1) nach der in der Ermittlungsakte befindlichen Unfallskizze bzw. den polizeilichen Fotos vom Unfallort am rechten Fahrbahnrand außerhalb des Fahrbahnbereichs und vor einem dahinter stehenden anderen PKW in Längsrichtung zur Fahrbahn geparkt war. Hiernach ist zwar einerseits richtig, dass der Beklagte zu 1) – wie der Sachverständige B. vor dem erkennenden Senat erläutert hat – wegen des hinter dem PKW S. stehenden weiteren Fahrzeugs aus der Parkposition heraus keine Sichtmöglichkeiten nach hinten hatte. Andererseits war er aber auch seinerseits für den Fahrer eines auf der Straße von hinten herannahenden Fahrzeugs schwer zu erkennen. Dies gilt insbesondere für die Einleitung und Durchführung des Ausparkvorgangs aus der parallel zum Straßenverlauf bestehenden Parksituation. Da die C. Straße im Unfallbereich nahezu schnurgerade verläuft, lag die Möglichkeit von deutlichen Geschwindigkeitsüberschreitungen durch Teilnehmer des fließenden Verkehrs auch nicht fern.
Hinzu kommt, dass der Beklagte zu 1) ein sogenanntes „Wenden in drei Zügen“ beabsichtigte. Hierbei handelt es sich um ein Fahrmanöver, das für einen gewissen Zeitraum im Wesentlichen die gesamte Straßenbreite einbezogen hätte und deshalb eine besonders gesteigerte Vorsicht erforderte. Eine Ausnahme von der Pflicht zur ständigen Verkehrsbeobachtung kann nur erwogen werden, wenn jede Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs und durch diesen ausgeschlossen ist (höchste Sorgfaltsstufe, vgl. Hentschel a. a. O. Rn. 25). Ein solcher Ausschluss kann jedoch im Streitfall nicht lediglich darauf gestützt werden, der Beklagte zu 1) habe, wenn zum Zeitpunkt seines ersten Blicks nach hinten im Bereich von 120 Metern das Motorrad noch nicht erkennbar war, darauf vertrauen dürfen, ohne Gefährdung anderer vom Straßenrand anfahren und wenden zu können.
Bei der Beantwortung der Frage, ob den Beklagten zu 1) auf dieser Grundlage der Vorwurf eines schuldhaften Verstoßes gegen die – gesteigerten – Sorgfaltspflichten aus § 9 Abs. 5, § 10 Satz 1 StVO trifft, ist auf den für die straßenverkehrsrechtliche Verschuldenshaftung maßgeblichen Sorgfaltsmaßstab (§ 276 BGB) des sog. Durchschnittsfahrers abzustellen. Dagegen ist die Beurteilung des Verschuldensvorwurfs nicht am Maßstab des sog. Idealfahrers vorzunehmen, auf den es lediglich im Rahmen des Unabwendbarkeitsnachweises gemäß § 17 Abs. 3 StVG ankommt (vgl. hierzu Geigel/Kunschert a. a. O. Kap. 25 Rn. 114 – 118). Keine Schuld im Sinne von § 276 BGB an dem Unfall trifft den Kraftfahrzeugführer bereits und seine (Verschuldens-)Haftung entfällt, wenn feststeht, dass er die im Verkehr erforderliche Sorgfalt eines Durchschnittskraftfahrers oder eines wenigstens durchschnittlich geübten Fahrers beachtet hat (vgl. Geigel/Kunschert a. a. O. Kap. 25 Rn. 114, Kap. 26 Rn. 11, jeweils m. w. N.).
Ausgehend davon kann im Streitfall nicht unberücksichtigt bleiben, dass nach den anschaulichen und überzeugenden mündlichen Erläuterungen des Sachverständigen B. anlässlich seiner Anhörung durch den Senat in der gegebenen Situation ein Idealfahrer bei Einleitung und Durchführung des Anfahr- und Wendemanövers möglicherweise beständig nach links schauen würde, wohingegen der „Normalfahrer“ aus den vom Sachverständigen geschilderten verkehrspsychologischen Gründen ein abweichendes Verhalten an den Tag legt, der „Otto-Normalverbraucher“ unter den Autofahrern insbesondere in einem Bereich, in dem eine Geschwindigkeit von 50 km/h erlaubt ist, bei der Einrichtung seines Fahr- und Reaktionsverhaltens nicht mit deutlich schneller fahrenden Fahrzeugen rechnet und er sich zudem hinsichtlich seiner Blickrichtung an dem von ihm letztlich angestrebten Ziel – hier etwa der gegenüber liegenden Straßenseite – ausrichtet, statt beständig nach links und rechts zu schauen.
Ausgehend hiervon vermag der Senat vorliegend selbst unter Berücksichtigung eines – allenfalls – in Betracht kommenden geringen Verschuldens des Beklagten zu 1) auf dessen Seite keinen höheren Haftungsanteil als 25 % zu erkennen. Andererseits gestattet das Ausmaß der den Beklagten zu 1) treffenden Sorgfaltspflichten es selbst in Abwägung mit dem gravierenden Verkehrsverstoß des Motorradfahrers nicht, den Haftungsbeitrag des Beklagten zu 1) im Wege der Abwägung vollständig zurücktreten zu lassen.
2. Der Höhe nach steht den Klägern auf der Grundlage einer Haftungsquotierung von 25 % zu Lasten des Beklagten zu 1) ein Schadensersatzanspruch im Umfang von lediglich 2.404,52 € zu. Ein weitergehender Anspruch ist nicht schlüssig dargetan.
a) Der Schadensersatzbetrag von 2.404,52 € folgt im Ausgangspunkt aus dem mit dem Klageantrag zu 3. geltend gemachten Schadensbetrag von 19.618,09 €, der sich im Einzelnen aus den Kosten der Beerdigung in Höhe von 19.102,69 €, Reisekosten der Kläger zur Erledigung der Förmlichkeiten in Deutschland in Höhe von 484,80 €, Kosten der Stilllegung des Motorrads in Höhe von 5,60 € sowie einer allgemeinen Unkostenpauschale im Umfang von 25,00 € zusammensetzt. Der sich aus diesen Einzelpositionen rechnerisch ergebende Gesamtbetrag von 19.618,09 € ist allerdings um 10.000,00 € auf verbleibende 9.618,09 € zu kürzen; 25 % hiervon machen den ausgeurteilten Betrag von 2.404,52 € aus. Dies ergibt sich aus den nachfolgenden Erwägungen:
Der von den Klägern geltend gemachte Schadensersatzbetrag von 19.618,09 € ist mit Ausnahme der Kosten des Grabsteins in Höhe von 12.500,00 €, die in dem Teilbetrag der Beerdigungskosten von 19.102,69 € enthalten sind, schlüssig dargelegt. Hinsichtlich der Kosten des Grabsteins kann indes statt der von den Klägern begehrten 12.500,00 € lediglich ein um 10.000,00 € auf 2.500,00 € gekürzter Schadensersatzbetrag berücksichtigt werden, weil der darüber hinausgehende Restbetrag den Umfang des aus Rechtsgründen ersatzfähigen Schadens deutlich übersteigt.
Gemäß §§ 823, 844 BGB, § 10 StVG hat im Falle der Tötung der Ersatzpflichtige die Kosten der Beerdigung demjenigen zu erstatten, dem die Verpflichtung, diese Kosten zu tragen, obliegt. Zu ersetzen sind hiernach die Kosten einer angemessenen, nicht nur notdürftigen Beerdigung. Da auf die Ersatzpflicht des Anspruchsberechtigten abgestellt wird und dieser gemäß § 1968 BGB – auch nach Streichung des früheren Begriffs der „standesgemäßen“ Beerdigung“ – die Erstattung eines der Lebensstellung des Verstorbenen angemessenen Beisetzungsaufwands schuldet (vgl. Palandt/Edenhofer, BGB 67. Aufl. § 1968 Rn. 3), kommt es für die Beurteilung der Angemessenheit der aufgewendeten Beerdigungskosten vornehmlich auf die gesellschaftliche und wirtschaftliche Stellung des Verstorbenen an. Ferner können Sitte, Brauchtum, regionale Besonderheiten und der Kulturkreis, dem der Verstorbene angehört hat, für die Beurteilung der Angemessenheit bedeutsam sein. Zu diesen Beerdigungskosten gehören grundsätzlich auch die Aufwendungen für einen Grabstein und die Grabanlage (vgl. Geigel/Schlegelmilch a. a. O. Kap. 8 Rn. 11). Der Umfang bestimmt sich auch hier nach dem Begriff des „Standesgemäßen“, also vornehmlich nach der Lebensstellung des Verstorbenen.
Bei der danach vorzunehmenden Schätzung (§ 287 ZPO) ist zu berücksichtigen, dass die Kosten für einen Grabstein in G. als Maßstab heranzuziehen sind. Denn die ersatzpflichtigen Erben leben in G. und haben dort den Grabstein erworben. Der Umstand, dass vorliegend gemäß Artikel 40 EGBGB das Recht des Tatorts und damit deutsches Recht anzuwenden ist, steht dieser Betrachtung nicht entgegen. Denn bei der Schadenshöhe geht es insoweit darum, nach welchen Marktverhältnissen die üblichen Kosten der Beerdigung zu ermitteln sind. Der Schadensersatz verfolgt das Ziel einer subjektbezogenen Schadensbeseitigung, die dem Geschädigten einen Ausgleich verschaffen soll. Der Geschädigte soll nicht bereichert, aber auch nicht ärmer werden. Dabei muss Rücksicht auf die spezielle Situation des Geschädigten genommen werden, zu welcher auch seine Umgebung gehört (vgl. BGH NJW 1996, 1958; NJW 2000, 800, 802).
Im Streitfall liegen keine Erkenntnisse vor, die dem Senat Veranlassung geben könnten, von einer anderen als einer durchschnittlichen Lebensstellung des Verstorbenen auszugehen. Weder der aktenkundige monatliche Bruttoverdienst des Verstorbenen noch der Umstand, dass seine Mutter, die Klägerin zu 2), Unterhaltsbedarf geltend macht, geben zu einer anderen Betrachtung Veranlassung. Die auch zur Schadenshöhe darlegungs- und beweispflichtigen Kläger haben indes keine Anhaltspunkte vorgetragen, die dem Senat im Rahmen der Schätzung (§ 287 ZPO) Anlass geben könnten, bei der Bemessung der angemessenen Grabsteinkosten für die Situation in G. von anderen als den in Deutschland geltenden Verhältnissen auszugehen. In Deutschland ist indes bei einer durchschnittlichen Lebensstellung des Verstorbenen für eine „standesgemäße“ Beisetzung nach der Lebenserfahrung nicht von höheren Kosten für ein Grabmal als dem Betrag von 2.500,00 € auszugehen. Der von den Klägern für den Grabstein geltend gemachte Kostenbetrag von 12.500,00 € ist daher um 10.000,00 € zu kürzen. Im Ergebnis ist daher der Schadensersatzbetrag von 19.618,09 € ebenfalls um 10.000,00 € zu reduzieren, so dass ein Restbetrag von 9.618,09 € verbleibt. Ein Viertel dieses Betrages macht den hier ausgeurteilten Schadensersatzbetrag von 2.404,52 € aus.
b) Im Übrigen ist der Schadensersatzanspruch der Kläger der Höhe nach insgesamt nicht schlüssig dargelegt. Auf diesbezügliche Bedenken hatte der Senat bereits in der Sitzung vom 08.02.2008 hingewiesen, ohne dass die Kläger ihren bisherigen Sachvortrag zur Schadenshöhe ergänzt hätten.
aa) Insbesondere haben die Kläger die Voraussetzungen für die Zubilligung eines Schmerzensgeldes bereits im Ausgangspunkt nicht hinreichend dargetan. Von Gesetzes wegen ist für den Todesfall grundsätzlich kein Schmerzensgeld vorgesehen (vgl. Palandt/Heinrichs a. a. O. § 253 Rn. 16). Die Bemessung des Schmerzensgeldes bei einer Körperverletzung, an deren Folgen der Verletzte alsbald verstirbt, erfordert daher eine Gesamtbetrachtung der immateriellen Beeinträchtigung unter besonderer Berücksichtigung von Art und Schwere der Verletzungen, des hierdurch bewirkten Leidens und dessen Wahrnehmung durch den Verletzten, wie auch des Zeitraums zwischen Verletzung und Eintritt des Todes. Ein Anspruch auf Schmerzensgeld kann danach zu verneinen sein, wenn die Körperverletzung nach den Umständen des Falles gegenüber dem alsbald eintretenden Tod keine abgrenzbare immaterielle Beeinträchtigung darstellt, sondern vielmehr ein notwendiges Durchgangsstadium ist, welches aus Billigkeitsgesichtspunkten einen Ausgleich in Geld nicht erforderlich macht (vgl. Palandt/Heinrichs a. a. O.; BGH NJW 1998, 2741; OLG Düsseldorf r + s 1997, 159; LG Berlin VRS 107, 13 ff.). Konkrete Angaben für den Zeitraum zwischen der Unfallzeit und dem Zeitpunkt des Todeseintritts haben die Kläger nicht vorgetragen. Nach der aktenkundigen Zeugenaussage des Ersthelfers (Blatt 50 BA) reagierte der Verstorbene nicht mehr auf Berührungen und hörte alsbald auf zu atmen. Auch wenn man davon ausgeht, dass anschließend noch eine Reanimation gelang, ist doch mangels anderweitiger Erkenntnisse davon auszugehen, dass der Verstorbene seine Verletzungen bis zum knapp drei Stunden nach dem Unfallereignis erfolgten Eintritt des Todes nicht wahrgenommen hat, diese also keine abgrenzbare immaterielle Beeinträchtigung dargestellt haben. Es wäre Sache der Kläger gewesen, eine solche gesonderte immaterielle Beeinträchtigung substantiiert darzutun; hieran fehlt es jedoch.
bb) Ein Anspruch der Klägerin zu 2) auf Zahlung einer Unterhaltsrente ist gleichfalls nicht schlüssig dargelegt. Mit der Klage wird ein Unterhaltsanspruch der Klägerin zu 2) gemäß §§ 1601, 1602 Abs. 2 BGB gegenüber dem verstorbenen Sohn der Klägerin zu 2), den diese durch den Unfalltod des Sohnes verloren haben will, geltend gemacht. Indes war der Verstorbene N. h. Staatsgehöriger und auch die Klägerin zu 2) ist h. Staatsangehörige. Im Streitfall ist zwar grundsätzlich nach Artikel 40 EGBGB deutsches Schadensrecht zur Anwendung berufen. Ausgehend hiervon ist deshalb die Vorfrage, ob die Unterhaltsrente als solche eine Schadensposition darstellt, nach deutschem Recht zu beurteilen. Gemäß § 10 Abs. 2 StVG sowie § 844 Abs. 2 BGB ist die Unterhaltsrente unter den dort normierten Voraussetzungen als Schadensposition anerkannt. Hiervon zu trennen ist jedoch die weitere Frage, ob die Bestimmung des Unterhalts sich nach deutschem oder h. Recht richtet. Dies ist, der herrschenden Meinung folgend, selbständig nach der lex fori zu bestimmen, was vorliegend bedeutet, dass deutsches Kollisionsrecht Anwendung findet. Nach dem insoweit berufenen Artikel 18 EGBGB sind auf Unterhaltspflichten die Sachvorschriften des am jeweiligen gewöhnlichen Aufenthaltsort des Unterhaltsberechtigten geltenden Rechts anzuwenden. Für die Frage, ob und in welcher Höhe eine Unterhaltspflicht besteht, gilt deshalb h. Recht (vgl. hierzu Firsching/von Hoffmann, Internationales Privatrecht § 6 Rn. 61). Eine schlüssige Darstellung, inwiefern der verstorbene N. nach dem hiernach anwendbaren h. (Sach-) Recht gegenüber der Klägerin zu 2) zur Zahlung einer Unterhaltsrente, insbesondere einer solchen in der geforderten Höhe verpflichtet war, fehlt indes.
Ausgehend davon, dass die Klageforderung nur in Höhe von 2.404,52 € berechtigt ist, vermindert sich der Betrag, den die Kläger für die Kosten des nicht anrechnungsfähigen außergerichtlichen Tätigwerdens ihrer Prozessbevollmächtigten erfolgreich geltend machen können, auf 219,93 €. Hierbei legt der Senat eine 0,65 Geschäftsgebühr nach einem Gegenstandswert von bis 2.500,00 € bei im Übrigen gleichbleibender Berechnung der Kosten entsprechend der Auflistung auf S. 8 f. der Klageschrift zugrunde.
Der Zinsanspruch folgt aus § 286 Abs. 2 Nr. 3 BGB. Der mit der Klage geltend gemachte Verzinsungsbeginn am 09.11.2006 kann anhand des Klagevorbringens nicht nachvollzogen werden. Da die Beklagte zu 2) allerdings mit Schreiben vom 28.11.2006 (Anl. K 1) „die angemeldeten Schadensersatzansprüche als unbegründet“ zurückgewiesen hat, geht der Senat davon aus, dass jedenfalls ab diesem Zeitpunkt eine ernsthafte und endgültige Erfüllungsverweigerung vorlag, die die Mahnung entbehrlich machte.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 92 Abs. 1 ZPO.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 708 Nr. 10, § 711, 713 ZPO.