Zum Recht eines Mitgliedsstaates der EU, seine Mitteilung über den beabsichtigten Austritt einseitig zurückzunehmen

EuGH, Urteil des Gerichtshofes vom 10. Dezember 2018

Art. 50 EUV ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat, der dem Europäischen Rat im Einklang mit diesem Artikel mitgeteilt hat, dass er beabsichtige, aus der Europäischen Union auszutreten, gestattet, solange ein Austrittsabkommen zwischen ihm und der Europäischen Union nicht in Kraft getreten ist oder, falls kein solches Abkommen geschlossen wurde, solange die in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehene Frist von zwei Jahren, die gegebenenfalls im Einklang mit dieser Bestimmung verlängert werden kann, nicht abgelaufen ist, die genannte Mitteilung durch ein an den Europäischen Rat gerichtetes Schreiben einseitig, eindeutig und unbedingt zurückzunehmen, nachdem er den Rücknahmebeschluss im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften getroffen hat. Gegenstand einer solchen Rücknahme ist die Bestätigung der Zugehörigkeit dieses Mitgliedstaats zur Europäischen Union unter Bedingungen, die hinsichtlich seines Status als Mitgliedstaat unverändert sind, so dass die Rücknahme das Austrittsverfahren beendet.

In der Rechtssache C‑621/18

betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Court of Session, Inner House, First Division (Scotland) (Oberstes Gericht, Berufungsabteilung, Erste Kammer [Schottland], Vereinigtes Königreich), mit Entscheidung vom 3. Oktober 2018, beim Gerichtshof eingegangen am gleichen Tag, in dem Verfahren

Andy Wightman,

Ross Greer,

Alyn Smith,

David Martin,

Catherine Stihler,

Jolyon Maugham,

Joanna Cherry

gegen

Secretary of State for Exiting the European Union,

Beteiligte:

Chris Leslie,

Tom Brake,

erlässt

DER GERICHTSHOF (Plenum)

unter Mitwirkung des Präsidenten K. Lenaerts, der Vizepräsidentin R. Silva de Lapuerta, der Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot und A. Arabadjiev, der Kammerpräsidentin A. Prechal, der Kammerpräsidenten M. Vilaras, E. Regan und T. von Danwitz, der Kammerpräsidentin C. Toader, der Kammerpräsidenten F. Biltgen, K. Jürimäe und C. Lycourgos, der Richter A. Rosas, E. Juhász, M. Ilešič, J. Malenovský, L. Bay Larsen, M. Safjan, D. Šváby, C. G. Fernlund (Berichterstatter), C. Vajda, S. Rodin, P. G. Xuereb und N. Piçarra sowie der Richterin L. S. Rossi,

Generalanwalt: M. Campos Sánchez-Bordona,

Kanzler: L. Hewlett, Hauptverwaltungsrätin,

aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. November 2018,

unter Berücksichtigung der Erklärungen

– von Herrn Wightman, Herrn Greer, Herrn Smith, Herrn Martin, Frau Stihler, Herrn Maugham und Frau Cherry, vertreten durch A. O’Neill, QC, M. Lester, QC, D. Welsh, advocate, P. Eeckhout, Rechtsprofessor, und E. Motion, Solicitor,

– von Herrn Leslie und Herrn Brake, vertreten durch M. Ross, QC, G. Facenna, QC, A. Howard, Barrister, S. Donnelly, advocate, sowie J. Jack und J. Halford, Solicitors,

– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch S. Brandon und C. Brodie als Bevollmächtigte im Beistand des Rt Hon. Lord Keen of Elie, QC, und von T. de la Mare, QC,

– des Rates der Europäischen Union, vertreten durch H. Legal, J.‑B. Laignelot und J. Ciantar als Bevollmächtigte,

– der Europäischen Kommission, vertreten durch L. Romero Requena, F. Erlbacher und K. Banks als Bevollmächtigte,

nach Anhörung der Schlussanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 4. Dezember 2018

folgendes

Urteil

1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 50 EUV.

2 Es ergeht im Rahmen eines von Andy Wightman, Ross Greer, Alyn Smith, David Martin, Catherine Stihler, Jolyon Maugham und Joanna Cherry gegen den Secretary of State for Exiting the European Union (Minister für den Austritt aus der Europäischen Union, Vereinigtes Königreich) eingeleiteten Verfahrens wegen der Möglichkeit einer einseitigen Rücknahme der Mitteilung der Absicht des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, aus der Europäischen Union auszutreten.

Rechtlicher Rahmen

Völkerrecht

3 Das Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (United Nations Treaty Series, Bd. 1155, S. 331) sieht in den Art. 65, 67 und 68 vor:

„Artikel 65. Verfahren bei Ungültigkeit oder Beendigung eines Vertrags, beim Rücktritt von einem Vertrag oder bei Suspendierung eines Vertrags

(1) Macht eine Vertragspartei auf Grund dieses Übereinkommens entweder einen Mangel in ihrer Zustimmung, durch einen Vertrag gebunden zu sein, oder einen Grund zur Anfechtung der Gültigkeit eines Vertrags, zu seiner Beendigung, zum Rücktritt vom Vertrag oder zu seiner Suspendierung geltend, so hat sie den anderen Vertragsparteien ihren Anspruch zu notifizieren. In der Notifikation sind die in Bezug auf den Vertrag beabsichtigte Maßnahme und die Gründe dafür anzugeben.

(2) Erhebt innerhalb einer Frist, die – außer in besonders dringenden Fällen – nicht weniger als drei Monate nach Empfang der Notifikation beträgt, keine Vertragspartei Einspruch, so kann die notifizierende Vertragspartei in der in Artikel 67 vorgesehenen Form die angekündigte Maßnahme durchführen.

(3) Hat jedoch eine andere Vertragspartei Einspruch erhoben, so bemühen sich die Vertragsparteien um eine Lösung durch die in Artikel 33 der Charta der Vereinten Nationen genannten Mittel.

Artikel 67. Urkunden zur Ungültigerklärung oder Beendigung eines Vertrags, zum Rücktritt von einem Vertrag oder zur Suspendierung eines Vertrags

(1) Die Notifikation nach Artikel 65 Absatz 1 bedarf der Schriftform.

(2) Eine Handlung, durch die ein Vertrag auf Grund seiner Bestimmungen oder nach Artikel 65 Absatz 2 oder 3 dieses Übereinkommens für ungültig erklärt oder beendet wird, durch die der Rücktritt vom Vertrag erklärt oder dieser suspendiert wird, ist durch eine den anderen Vertragsparteien zu übermittelnde Urkunde vorzunehmen. Ist die Urkunde nicht vom Staatsoberhaupt, Regierungschef oder Außenminister unterzeichnet, so kann der Vertreter des die Urkunde übermittelnden Staates aufgefordert werden, seine Vollmacht vorzulegen.

Artikel 68. Rücknahme von Notifikationen und Urkunden nach den Artikeln 65 und 67

Eine Notifikation oder eine Urkunde nach den Artikeln 65 und 67 kann jederzeit zurückgenommen werden, bevor sie wirksam wird.“

Unionsrecht

4 Nach seinem Art. 1 Abs. 2 stellt der EU-Vertrag eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas dar, in der die Entscheidungen möglichst offen und möglichst bürgernah getroffen werden.

5 Art. 2 EUV sieht vor:

„Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören. Diese Werte sind allen Mitgliedstaaten in einer Gesellschaft gemein, die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet.“

6 Art. 50 EUV lautet:

„(1) Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten.

(2) Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird. Das Abkommen wird nach Artikel 218 Absatz 3 [AEUV] ausgehandelt. Es wird vom Rat im Namen der Union geschlossen; der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments.

(3) Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.

(4) Für die Zwecke der Absätze 2 und 3 nimmt das Mitglied des Europäischen Rates und des Rates, das den austretenden Mitgliedstaat vertritt, weder an den diesen Mitgliedstaat betreffenden Beratungen noch an der entsprechenden Beschlussfassung des Europäischen Rates oder des Rates teil.

Die qualifizierte Mehrheit bestimmt sich nach Artikel 238 Absatz 3 Buchstabe b [AEUV].

(5) Ein Staat, der aus der Union ausgetreten ist und erneut Mitglied werden möchte, muss dies nach dem Verfahren des Artikels 49 beantragen.“

Recht des Vereinigten Königreichs

7 Der European Union (Notification of Withdrawal) Act 2017 (Gesetz von 2017 über die Mitteilung des Austritts aus der Europäischen Union) sieht vor:

„…

1 Befugnis zur Mitteilung des Austritts aus der [Union]

(1) Der Premierminister kann gemäß Artikel 50 Absatz 2 [EUV] mitteilen, dass das Vereinigte Königreich beabsichtigt, aus der [Union] auszutreten.

(2) Diese Section entfaltet ungeachtet jeder Bestimmung des oder aufgrund des European Communities Act 1972 [(Gesetz von 1972 über die Europäischen Gemeinschaften)] oder jeder anderen Rechtsvorschrift Wirkung.

…“

8 Section 13 des am 26. Juni 2018 erlassenen European Union (Withdrawal) Act 2018 (Gesetz von 2018 über den Austritt aus der Europäischen Union) bestimmt:

„(1) Das Austrittsabkommen kann nur ratifiziert werden, wenn

a) ein Minister der Krone jeder Kammer des Parlaments Folgendes vorgelegt hat:

i) eine Erklärung, dass eine politische Einigung erzielt worden ist,

ii) eine Kopie des ausgehandelten Austrittsabkommens und

iii) eine Kopie des Rahmens für die künftigen Beziehungen,

b) das ausgehandelte Austrittsabkommen und der Rahmen für die künftigen Beziehungen auf Antrag eines Ministers der Krone durch eine Resolution des House of Commons [(Unterhaus)] gebilligt worden sind,

c) ein Minister der Krone im House of Lords [(Oberhaus)] einen Antrag auf Kenntnisnahme des ausgehandelten Austrittsabkommens und des Rahmens für die künftigen Beziehungen eingebracht hat und

i) der Antrag im House of Lords debattiert worden ist oder

ii) das House of Lords die Debatte über den Antrag nicht vor Ablauf eines Zeitraums von fünf Sitzungstagen, beginnend mit dem ersten Sitzungstag nach dem Tag, an dem das House of Commons die unter Buchstabe b genannte Resolution verabschiedet, abgeschlossen hat

und

d) ein Parlamentsgesetz verabschiedet worden ist, das Bestimmungen für die Umsetzung des Austrittsabkommens enthält.

(2) Soweit praktikabel, muss ein Minister der Krone Vorkehrungen treffen, damit der in Subsection (1)(b) genannte Antrag Gegenstand einer Debatte und einer Abstimmung im House of Commons ist, bevor das Europäische Parlament darüber entscheidet, ob es dem gemäß Artikel 50 Absatz 2 [EUV] im Namen der [Union] geschlossenen Austrittsabkommen zustimmt.

…“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

9 Bei einem Referendum, das am 23. Juni 2016 im Vereinigten Königreich stattfand, sprach sich eine Mehrheit dafür aus, dass dieser Mitgliedstaat die Union verlässt. Am 29. März 2017 teilte die Premierministerin (Vereinigtes Königreich), die durch den European Union (Notification of Withdrawal) Act 2017 hierzu ermächtigt worden war, dem Europäischen Rat mit, dass das Vereinigte Königreich beabsichtige, gemäß Art. 50 EUV aus der Union auszutreten.

10 Am 19. Dezember 2017 stellten die Kläger des Ausgangsverfahrens, zu denen ein Mitglied des Parliament of the United Kingdom of Great Britain and Northern Ireland (Parlament des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland, im Folgenden: Parlament des Vereinigten Königreichs), zwei Mitglieder des Scottish Parliament (Schottisches Parlament, Vereinigtes Königreich) und drei Mitglieder des Europäischen Parlaments gehören, beim Court of Session (Scotland) (Oberstes Gericht [Schottland], Vereinigtes Königreich) einen Antrag auf gerichtliche Überprüfung (judicial review), mit dem sie die Feststellung (declarator) begehren, ob, wann und wie die genannte Mitteilung einseitig zurückgenommen werden kann. Die Kläger, zu deren Unterstützung zwei weitere Mitglieder des Parlaments des Vereinigten Königreichs dem Rechtsstreit beigetreten sind, möchten wissen, ob die in Art. 50 EUV vorgesehene Mitteilung vor Ablauf des dort genannten Zweijahreszeitraums einseitig zurückgenommen werden kann, mit der Folge, dass das Vereinigte Königreich bei einer Rücknahme seiner Mitteilung in der Europäischen Union verbliebe. Sie forderten den Court of Session (Scotland) (Oberstes Gericht [Schottland]) auf, dem Gerichtshof hierzu eine Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen. Der Secretary of State for Exiting the European Union hielt dem entgegen, dass die Frage angesichts des Standpunkts der Regierung des Vereinigten Königreichs, dass es keine Rücknahme der Mitteilung geben werde, hypothetisch und akademisch sei.

11 Mit Entscheidung vom 8. Juni 2018 lehnte der Lord Ordinary (erstinstanzlicher Richter am Court of Session, Vereinigtes Königreich) die Befassung des Gerichtshofs ab und wies den Antrag auf gerichtliche Überprüfung mit der Begründung zurück, erstens sei die Frage angesichts des Standpunkts der Regierung des Vereinigten Königreichs hypothetisch, und der Sachverhalt, auf dessen Grundlage der Gerichtshof befragt werden solle, könne nicht sicher festgestellt werden, und zweitens greife die Frage in die Souveränität des Parlaments ein und liege außerhalb der Zuständigkeit des nationalen Gerichts.

12 Die Kläger des Ausgangsverfahrens legten beim vorlegenden Gericht Berufung gegen diese Entscheidung ein.

13 Das vorlegende Gericht hebt hervor, dass nach Section 13 des European Union (Withdrawal) Act 2018 die Zustimmung des Parlaments des Vereinigten Königreichs zum Ausgang der Verhandlungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Union im Rahmen von Art. 50 EUV eingeholt werden müsse. Insbesondere könne das Austrittsabkommen erst ratifiziert werden, wenn es und der Rahmen für die künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Union durch eine Resolution des House of Commons gebilligt und im House of Lords debattiert worden seien. Würden sie nicht gebilligt, müsse die Regierung des Vereinigten Königreichs angeben, welches Vorgehen sie vorschlage. Erkläre die Premierministerin vor dem 21. Januar 2019, dass keine grundsätzliche Einigung erzielt werden könne, müsse die Regierung wiederum angeben, welches Vorgehen sie vorschlage, und diesen Vorschlag den beiden Kammern des Parlaments des Vereinigten Königreichs vorlegen.

14 Werde ein etwaiges Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Union nicht gebilligt und geschehe sonst nichts, fänden die Verträge ab dem 29. März 2019 auf diesen Mitgliedstaat keine Anwendung mehr, und er scheide zu diesem Zeitpunkt automatisch aus der Union aus.

15 Mit Beschluss vom 21. September 2018 gab das vorlegende Gericht der Berufung gegen die Entscheidung des Lord Ordinary (erstinstanzlicher Richter) und dem Antrag der Kläger des Ausgangsverfahrens auf ein Vorabentscheidungsersuchen gemäß Art. 267 AEUV statt. Das vorlegende Gericht hält es weder für akademisch noch für verfrüht, den Gerichtshof zu befragen, ob eine einseitige Rücknahme der Mitteilung gemäß Art. 50 Abs. 2 EUV und ein Verbleib in der Union für einen Mitgliedstaat rechtlich möglich seien. Dies sei ungewiss, und die Antwort des Gerichtshofs werde klarstellen, welche Optionen die Mitglieder des House of Commons bei der Abstimmung über ein etwaiges Abkommen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Union hätten. Die Antwort werde ihnen insbesondere Klarheit darüber verschaffen, ob es nicht zwei, sondern drei Optionen gebe, und zwar den Austritt aus der Union ohne Abkommen, den Austritt aus der Union mit dem ihnen unterbreiteten Abkommen oder die Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht und den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der Union.

16 Unter diesen Umständen hat der Court of Session, Inner House, First Division (Scotland) (Oberstes Gericht, Berufungsabteilung, Erste Kammer [Schottland], Vereinigtes Königreich), beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

Wenn ein Mitgliedstaat im Einklang mit Art. 50 EUV dem Europäischen Rat seine Absicht mitgeteilt hat, aus der Europäischen Union auszutreten, lässt das Unionsrecht es dann zu, dass diese Mitteilung von dem mitteilenden Mitgliedstaat einseitig zurückgenommen wird; wenn ja, unter welchen Voraussetzungen ist dies möglich, und welche Auswirkung hat es auf den Verbleib des Mitgliedstaats in der Europäischen Union?

17 Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat beim vorlegenden Gericht beantragt, die Einlegung eines Rechtsmittels gegen den in Rn. 15 des vorliegenden Urteils erwähnten Beschluss vom 21. September 2018 und den Beschluss vom 3. Oktober 2018, mit dem das vorlegende Gericht den Gerichtshof um Vorabentscheidung ersucht hat, zuzulassen. Dieser Antrag ist mit Entscheidung vom 8. November 2018 zurückgewiesen worden. Daraufhin hat die Regierung des Vereinigten Königreichs beim Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) beantragt, die Einlegung eines Rechtsmittels gegen die beiden Beschlüsse zuzulassen. Dieser Antrag ist durch Beschluss des Supreme Court of the United Kingdom (Oberster Gerichtshof des Vereinigten Königreichs) vom 20. November 2018 zurückgewiesen worden.

Verfahren vor dem Gerichtshof

18 Das vorlegende Gericht hat die Anwendung des in Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs vorgesehenen beschleunigten Verfahrens beantragt.

19 Mit Beschluss vom 19. Oktober 2018, Wightman u. a. (C‑621/18, EU:C:2018:851), hat der Präsident des Gerichtshofs diesem Antrag stattgegeben.

Zur Vorlagefrage

Zur Zulässigkeit

20 Die Regierung des Vereinigten Königreichs trägt vor, die Vorlagefrage sei unzulässig, weil sie hypothetisch sei. Insbesondere sei ein Entwurf für einen Rechtsakt zur Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht des Vereinigten Königreichs aus der Union weder verabschiedet noch auch nur in Erwägung gezogen worden, es gebe keinen Ausgangsrechtsstreit, und die gestellte Frage ziele de facto darauf ab, eine gutachtliche Stellungnahme zu einer verfassungsrechtlichen Frage zu erlangen, und zwar zur korrekten Auslegung von Art. 50 EUV und der auf seiner Grundlage ergangenen Rechtsakte.

21 Es gebe keinen konkreten Rechtsstreit, da die Vorlagefrage auf Ereignisse Bezug nehme, die nicht stattgefunden hätten und möglicherweise nicht stattfinden würden. Die Regierung des Vereinigten Königreichs habe immer wieder erklärt, dass sie das Ergebnis des Referendums respektieren werde, indem sie die Mitteilung gemäß Art. 50 EUV vornehme und damit aus der Union austrete, sei es auf der Grundlage eines Abkommens oder ohne ein Abkommen.

22 Die Frage betreffe in Wirklichkeit die rechtlichen Implikationen einer Situation, die derzeit nicht bestehe. Sie beruhe auf der Annahme, dass das Vereinigte Königreich, auf Initiative seines Parlaments oder in anderer Weise, versuchen werde, die Mitteilung zurückzunehmen, und dass sich die Europäische Kommission oder die 27 anderen Mitgliedstaaten dieser Rücknahme widersetzen würden, denn nur dann käme es zu einem Rechtsstreit.

23 Die Stellung des Antrags im Ausgangsverfahren in Verbindung mit dem Begehren, den Gerichtshof um Vorabentscheidung zu ersuchen und auf diese Weise eine gutachtliche Stellungnahme von ihm zu erlangen, umgehe die Vorschriften des AEU-Vertrags über Rechtsbehelfe, Klagebefugnis und Fristen. Das Verfahren zur Einholung eines Gutachtens sei in Art. 218 Abs. 11 AEUV geregelt und stehe nur zur Verfügung, wenn die Vereinbarkeit einer geplanten internationalen Übereinkunft mit den Verträgen fraglich sei.

24 Die einzigen möglichen Rechtsbehelfe seien Klagen, sofern das Vereinigte Königreich seine Mitteilung zurücknehmen und einen Rechtsstreit mit den übrigen Mitgliedstaaten und den Unionsorganen auslösen sollte.

25 Die Kommission fügt hinzu, die Entscheidung, die das vorlegende Gericht treffen werde, nachdem es die Antwort des Gerichtshofs auf seine Vorlagefrage erhalten habe, werde keine Bindungswirkung für die Parteien des Ausgangsverfahrens haben, so dass diese Frage hypothetisch sei. In der mündlichen Verhandlung hat sie jedoch anerkannt, dass es einen Ausgangsrechtsstreit gebe.

26 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass es allein Sache des nationalen Gerichts ist, das mit dem Rechtsstreit befasst ist und in dessen Verantwortungsbereich die zu erlassende Entscheidung fällt, anhand der Besonderheiten der Rechtssache sowohl die Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils als auch die Erheblichkeit der Fragen zu beurteilen, die es dem Gerichtshof vorlegt. Daher ist der Gerichtshof grundsätzlich gehalten, über ihm vorgelegte Fragen zu befinden, wenn diese die Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts betreffen (Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 24, und vom 7. Februar 2018, American Express, C‑304/16, EU:C:2018:66, Rn. 31).

27 Folglich gilt für Fragen, die das Unionsrecht betreffen, eine Vermutung der Entscheidungserheblichkeit. Der Gerichtshof kann die Beantwortung einer Vorlagefrage eines nationalen Gerichts nur ablehnen, wenn die erbetene Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts offensichtlich in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt, die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen erforderlich sind (Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 25, und vom 7. Februar 2018, American Express, C‑304/16, EU:C:2018:66, Rn. 32).

28 Überdies ist darauf hinzuweisen, dass die Rechtfertigung des Vorabentscheidungsersuchens nach ständiger Rechtsprechung nicht in der Abgabe von Gutachten zu allgemeinen oder hypothetischen Fragen liegt, sondern darin, dass das Ersuchen für die tatsächliche Entscheidung eines Rechtsstreits erforderlich ist (Urteil vom 28. März 2017, Rosneft, C‑72/15, EU:C:2017:236, Rn. 194 und die dort angeführte Rechtsprechung; vgl. in diesem Sinne auch Urteile vom 16. Dezember 1981, Foglia, 244/80, EU:C:1981:302, Rn. 18, und vom 12. Juni 2008, Gourmet Classic, C‑458/06, EU:C:2008:338, Rn. 26).

29 Im vorliegenden Fall ist das vorlegende Gericht mit einer Berufung gegen eine Entscheidung des erstinstanzlichen Richters im Rahmen eines Verfahrens befasst, in dem es um die Feststellung geht, ob die gemäß Art. 50 EUV erfolgte Mitteilung der Absicht des Vereinigten Königreichs, aus der Union auszutreten, vor Ablauf der in diesem Artikel vorgesehenen Frist von zwei Jahren einseitig zurückgenommen werden kann, mit der Folge, dass das Vereinigte Königreich bei einer Rücknahme der Mitteilung in der Union bliebe. Das vorlegende Gericht führt hierzu aus, es habe in einem Rechtsstreit über diese tatsächliche und aktuelle Rechtsfrage von beträchtlicher Bedeutung zu entscheiden. Einer der Kläger des Ausgangsverfahrens und zwei Beteiligte des Ausgangsverfahrens müssten als Mitglieder des Parlaments des Vereinigten Königreichs über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Union und insbesondere, aufgrund von Section 13 des European Union (Withdrawal) Act 2018, über die Ratifizierung des zwischen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Union gemäß Art. 50 EUV ausgehandelten Abkommens abstimmen. Diese Mitglieder des Parlaments des Vereinigten Königreichs hätten ein Interesse an der Beantwortung der genannten Rechtsfrage, da dadurch geklärt werden könne, welche Optionen sie bei der Ausübung ihrer Parlamentsmandate hätten.

30 Es ist nicht Sache des Gerichtshofs, die Beurteilung der Zulässigkeit des Ausgangsrechtsstreits durch das vorlegende Gericht in Frage zu stellen, die im Rahmen des Vorabentscheidungsverfahrens in die Zuständigkeit des nationalen Gerichts fällt, noch hat er zu prüfen, ob die Vorlageentscheidung im Einklang mit den nationalen Vorschriften über die Gerichtsorganisation und das gerichtliche Verfahren ergangen ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 26, und vom 7. Februar 2018, American Express, C‑304/16, EU:C:2018:66, Rn. 34). Im vorliegenden Fall hat das vorlegende Gericht die vor ihm von der Regierung des Vereinigten Königreichs erhobenen Einwände, dass die Ausgangsverfahren wegen ihres hypothetischen oder akademischen Charakters unzulässig seien, zurückgewiesen. Folglich ist das Vorbringen der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission, soweit mit ihm die Zulässigkeit der Klage in Frage gestellt werden soll, für die Beurteilung der Zulässigkeit des Vorabentscheidungsersuchens ohne Bedeutung (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 13. März 2007, Unibet, C‑432/05, EU:C:2007:163, Rn. 33).

31 Im Übrigen steht der Umstand, dass im Ausgangsverfahren eine Feststellung begehrt wird, einer Entscheidung des Gerichtshofs über eine Vorlagefrage nicht entgegen, da dieses Verfahren nach nationalem Recht zulässig ist und da die Frage für die Entscheidung des Rechtsstreits, mit dem das vorlegende Gericht ordnungsgemäß befasst ist, objektiv erforderlich ist (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 15. Dezember 1995, Bosman, C‑415/93, EU:C:1995:463, Rn. 65, und vom 16. Juni 2015, Gauweiler u. a., C‑62/14, EU:C:2015:400, Rn. 28).

32 Somit ist vor dem vorlegenden Gericht ein Rechtsstreit anhängig, auch wenn sich die Beklagte des Ausgangsverfahrens zu der von den Klägern des Ausgangsverfahrens aufgeworfenen Frage nicht in der Sache geäußert, sondern nur die Zulässigkeit ihres Rechtsbehelfs in Abrede gestellt hat (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Juli 2010, Afton Chemical, C‑343/09, EU:C:2010:419, Rn. 11 und 15).

33 Die Erheblichkeit der Vorlagefrage steht außer Zweifel, da sie die Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts, und zwar des Primärrechts, betrifft und da gerade sie Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits ist.

34 Folglich ist nicht offensichtlich, dass die vorgelegte Frage nach der Auslegung von Art. 50 EUV in keinem Zusammenhang mit der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht oder ein hypothetisches Problem betrifft.

35 Zu dem in Rn. 23 des vorliegenden Urteils erwähnten Argument, dass das vorlegende Gericht unter Umgehung des in Art. 218 Abs. 11 AEUV vorgesehenen Verfahrens ein Gutachten des Gerichtshofs erlangen wolle, ist festzustellen, dass das vorlegende Gericht den Gerichtshof nicht um ein Gutachten über die Vereinbarkeit einer geplanten Übereinkunft mit den Verträgen ersucht, sondern ihn nach der Auslegung einer Bestimmung des Unionsrechts befragt, um über den Ausgangsrechtsstreit entscheiden zu können.

36 Die Vorlagefrage ist mithin zulässig.

Zur Beantwortung der Frage

37 Die Kläger und die Beteiligten des Ausgangsverfahrens führen aus, zwar sei in Art. 50 EUV die Rücknahme einer Mitteilung der Absicht, aus der Union auszutreten, nicht ausdrücklich geregelt, aber ein solches Recht bestehe und könne einseitig ausgeübt werden. Es dürfe allerdings, ebenso wie das in Art. 50 Abs. 1 EUV vorgesehene Austrittsrecht selbst, nur unter Beachtung der verfassungsrechtlichen Vorschriften des betreffenden Mitgliedstaats ausgeübt werden. Das Austrittsverfahren werde daher fortgesetzt, solange der betreffende Mitgliedstaat aus der Union austreten wolle; es ende aber, wenn dieser Mitgliedstaat vor Ablauf der in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehenen Frist seine Meinung ändere und beschließe, doch nicht aus der Union auszutreten.

38 Der Rat und die Kommission teilen zwar den Standpunkt, dass ein Mitgliedstaat berechtigt sei, die Mitteilung seiner Austrittsabsicht zurückzunehmen, bevor die Verträge auf ihn keine Anwendung mehr fänden; sie bestreiten aber, dass er dies einseitig tun könne.

39 Sie führen aus, wenn einem Mitgliedstaat, der seine Austrittsabsicht mitgeteilt habe, ein Recht zur einseitigen Rücknahme zuerkannt würde, könnte er die in Art. 50 Abs. 2 und 3 EUV aufgestellten Regeln umgehen, die einen geordneten Austritt aus der Union gewährleisten sollten; dies würde zulasten der Union und ihrer Organe Missbräuchen des betreffenden Mitgliedstaats Tür und Tor öffnen.

40 Der betreffende Mitgliedstaat könnte dann kurz vor Ablauf der in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehenen Frist von seinem Rücknahmerecht Gebrauch machen und unmittelbar danach erneut seine Austrittsabsicht mitteilen, was eine neue Verhandlungsfrist von zwei Jahren in Gang setzen würde. Auf diese Weise stünde dem Mitgliedstaat de facto ein zeitlich unbegrenztes Recht zur Aushandlung seines Austritts zu; dies würde die in Art. 50 Abs. 3 EUV aufgestellte Frist ihrer praktischen Wirksamkeit berauben.

41 Außerdem könnte ein Mitgliedstaat sein Rücknahmerecht jederzeit als Druckmittel bei den Verhandlungen nutzen. Falls ihm die Bedingungen des Austrittsabkommens nicht zusagten, könnte er mit der Rücknahme seiner Mitteilung drohen und dadurch Druck auf die Unionsorgane ausüben, um in den Genuss günstigerer Bedingungen zu kommen.

42 Um solche Gefahren auszuschließen, sei Art. 50 EUV dahin auszulegen, dass er die Rücknahme nur gestatte, wenn der Europäische Rat ihr einstimmig zustimme.

43 Die Regierung des Vereinigten Königreichs hat nicht dazu Stellung genommen, ob ein Mitgliedstaat, der gemäß Art. 50 EUV seine Austrittsabsicht aus der Union mitgeteilt hat, diese Mitteilung zurücknehmen kann.

44 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass die Gründungsverträge, bei denen es sich um die Verfassungsurkunde der Union handelt (Urteil vom 23. April 1986, Les Verts/Parlament, 294/83, EU:C:1986:166, Rn. 23), im Unterschied zu gewöhnlichen völkerrechtlichen Verträgen eine neue, mit eigenen Organen ausgestattete Rechtsordnung geschaffen haben, zu deren Gunsten die ihr angehörenden Staaten in Bereichen von immer größerem Umfang ihre Souveränitätsrechte eingeschränkt haben und deren Rechtssubjekte nicht nur diese Staaten, sondern auch ihre Bürger sind (Gutachten 2/13 [Beitritt der Union zur EMRK] vom 18. Dezember 2014, EU:C:2014:2454, Rn. 157 und die dort angeführte Rechtsprechung).

45 Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs wird diese Autonomie des Unionsrechts sowohl gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten als auch gegenüber dem Völkerrecht durch die wesentlichen Merkmale der Union und ihres Rechts gerechtfertigt, die insbesondere die Verfassungsstruktur der Union sowie das Wesen dieses Rechts selbst betreffen. Das Unionsrecht ist nämlich dadurch gekennzeichnet, dass es einer autonomen Quelle, den Verträgen, entspringt und Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten hat, sowie durch die unmittelbare Wirkung einer ganzen Reihe für ihre Staatsangehörigen und für sie selbst geltender Bestimmungen. Solche Merkmale haben zu einem strukturierten Netz miteinander verflochtener Grundätze, Regeln und Rechtsbeziehungen geführt, das die Union selbst und ihre Mitgliedstaaten wechselseitig sowie die Mitgliedstaaten untereinander bindet (Urteil vom 6. März 2018, Achmea, C‑284/16, EU:C:2018:158, Rn. 33 und die dort angeführte Rechtsprechung).

46 Die vorgelegte Frage ist somit anhand der Verträge in ihrer Gesamtheit zu prüfen.

47 Insoweit ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs bei der Auslegung einer Vorschrift des Unionsrechts nicht nur ihr Wortlaut und die mit ihr verfolgten Ziele zu berücksichtigen sind, sondern auch ihr Zusammenhang und das gesamte Unionsrecht. Auch die Entstehungsgeschichte einer Vorschrift des Unionsrechts kann relevante Anhaltspunkte für deren Auslegung liefern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 27. November 2012, Pringle, C‑370/12, EU:C:2012:756, Rn. 135; Urteile vom 3. Oktober 2013, Inuit Tapiriit Kanatami u. a./Parlament und Rat, C‑583/11 P, EU:C:2013:625, Rn. 50 und die dort angeführte Rechtsprechung, und vom 17. März 2016, Parlament/Kommission, C‑286/14, EU:C:2016:183, Rn. 43).

48 Zum Wortlaut von Art. 50 EUV ist festzustellen, dass die Rücknahme dort nicht explizit angesprochen wird. Sie wird weder ausdrücklich untersagt noch ausdrücklich gestattet.

49 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 99 bis 102 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, ergibt sich allerdings aus dem Wortlaut von Art. 50 Abs. 2 EUV, dass ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, dem Europäischen Rat seine „Absicht“ mitteilt. Eine Absicht ist aber dem Wesen nach weder endgültig noch unwiderruflich.

50 Überdies sieht Art. 50 Abs. 1 EUV vor, dass jeder Mitgliedstaat im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen kann, aus der Union auszutreten. Daraus folgt, dass der betreffende Mitgliedstaat nicht verpflichtet ist, seinen Beschluss in Abstimmung mit den übrigen Mitgliedstaaten oder mit den Unionsorganen zu fassen. Der Austrittsbeschluss beruht allein auf dem Willen dieses Mitgliedstaats, den er unter Beachtung seiner verfassungsrechtlichen Vorschriften bildet, und hängt somit allein von seiner souveränen Entscheidung ab.

51 Art. 50 Abs. 2 und 3 EUV sieht sodann das im Fall eines Austrittsbeschlusses anzuwendende Verfahren vor. Wie der Gerichtshof im Urteil vom 19. September 2018, RO (C‑327/18 PPU, EU:C:2018:733, Rn. 46), ausgeführt hat, umfasst dieses Verfahren erstens die Mitteilung der Austrittsabsicht an den Europäischen Rat, zweitens die Aushandlung und den Abschluss eines Abkommens über die Einzelheiten des Austritts, wobei den künftigen Beziehungen zwischen dem betreffenden Staat und der Union Rechnung getragen wird, und drittens den eigentlichen Austritt aus der Union zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Abkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der Mitteilung an den Europäischen Rat, es sei denn, dieser beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, die Frist zu verlängern.

52 Art. 50 Abs. 2 EUV nimmt Bezug auf Art. 218 Abs. 3 AEUV, der vorsieht, dass die Kommission dem Rat Empfehlungen vorlegt und dass dieser einen Beschluss über die Ermächtigung zur Aufnahme von Verhandlungen und über die Benennung des Verhandlungsführers oder des Leiters des Verhandlungsteams der Union erlässt.

53 In Art. 50 Abs. 2 EUV wird somit festgelegt, welche Rolle die verschiedenen Organe im Verfahren zur Aushandlung und zum Abschluss des Austrittsabkommens spielen, wobei dessen Abschluss der qualifizierten Mehrheit im Rat nach Zustimmung des Europäischen Parlaments bedarf.

54 Ferner wird in Art. 50 Abs. 3 EUV festgelegt, wann der Austritt des betreffenden Mitgliedstaats aus der Union wirksam wird; er bestimmt, dass die Verträge auf diesen Mitgliedstaat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der Mitteilung der Austrittsabsicht durch den Mitgliedstaat keine Anwendung mehr finden. Diese Frist von höchstens zwei Jahren ab der Mitteilung gilt vorbehaltlich ihrer Verlängerung durch einstimmigen Beschluss der Mitglieder des Europäischen Rates im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat.

55 Nachdem der betreffende Mitgliedstaat aus der Union ausgetreten ist, kann er nach dem Verfahren des Art. 49 EUV beantragen, erneut Mitglied zu werden.

56 Folglich wird mit Art. 50 EUV ein doppeltes Ziel verfolgt; zum einen wird darin das souveräne Recht eines Mitgliedstaats verankert, aus der Union auszutreten, und zum anderen wird ein Verfahren geschaffen, das es ermöglichen soll, dass ein solcher Austritt geordnet abläuft.

57 Wie der Generalanwalt in den Nrn. 94 und 95 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, spricht die Tatsache, dass es sich bei dem in Art. 50 Abs. 1 EUV verankerten Austrittsrecht um ein souveränes Recht handelt, dafür, dass der betreffende Mitgliedstaat, solange ein Austrittsabkommen zwischen der Union und ihm nicht in Kraft getreten ist oder, andernfalls, solange die in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehene Frist von zwei Jahren, die gegebenenfalls im Einklang mit dieser Bestimmung verlängert werden kann, nicht abgelaufen ist, das Recht zur Rücknahme der Mitteilung seiner Absicht hat, aus der Union auszutreten.

58 Mangels einer ausdrücklichen Regelung, wie die Mitteilung der Austrittsabsicht zurückzunehmen ist, muss ihre Rücknahme unter Beachtung der Vorschriften erfolgen, die in Art. 50 Abs. 1 EUV für den Austritt selbst vorgesehen sind, d. h., sie kann einseitig, im Einklang mit den verfassungsrechtlichen Vorschriften des betreffenden Mitgliedstaats, beschlossen werden.

59 Nimmt ein Mitgliedstaat, bevor eines der in Rn. 57 des vorliegenden Urteils erwähnten Ereignisse eingetreten ist, die Mitteilung seiner Austrittsabsicht zurück, kommt darin eine souveräne Entscheidung dieses Staates zum Ausdruck, den Status als Mitgliedstaat der Union behalten zu wollen; dieser Status wurde durch die genannte Mitteilung weder ausgesetzt noch geändert (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 19. September 2018, RO, C‑327/18 PPU, EU:C:2018:733, Rn. 45), vorbehaltlich allein der Bestimmungen von Art. 50 Abs. 4 EUV.

60 Darin unterscheidet sich eine solche Rücknahme grundlegend von einem etwaigen Antrag, mit dem der betreffende Mitgliedstaat den Europäischen Rat um die Verlängerung der in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehenen Frist von zwei Jahren ersucht, so dass der Rat und die Kommission zu Unrecht eine Analogie zwischen der Rücknahme und einem solchen Antrag auf Fristverlängerung herzustellen versuchen.

61 Zum Kontext von Art. 50 EUV geht aus dem 13. Erwägungsgrund der Präambel des EU-Vertrags, aus dem ersten Erwägungsgrund der Präambel des AEU‑Vertrags und aus Art. 1 EUV hervor, dass die Verträge dazu dienen, eine immer engere Union der Völker Europas zu schaffen, und aus dem zweiten Erwägungsgrund der Präambel des AEU-Vertrags ergibt sich, dass die Union die Europa trennenden Schranken beseitigen soll.

62 Ferner ist die Bedeutung der in den Erwägungsgründen 2 und 4 der Präambel des EU-Vertrags angesprochenen Werte der Freiheit und der Demokratie hervorzuheben, die zu den gemeinsamen Werten im Sinne von Art. 2 EUV sowie der Präambel der Charta der Grundrechte der Europäischen Union gehören und damit zu den Grundlagen der Unionsrechtsordnung selbst (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 3. September 2008, Kadi und Al Barakaat International Foundation/Rat und Kommission, C‑402/05 P und C‑415/05 P, EU:C:2008:461, Rn. 303 und 304).

63 Wie sich aus Art. 49 EUV ergibt, wonach jeder europäische Staat beantragen kann, Mitglied der Union zu werden, und dessen Gegenstück Art. 50 EUV über das Austrittsrecht ist, besteht die Union aus Staaten, die diese Werte von sich aus und freiwillig übernommen haben, so dass das Unionsrecht auf der grundlegenden Prämisse beruht, dass jeder Mitgliedstaat mit allen übrigen Mitgliedstaaten eine Reihe gemeinsamer Werte teilt und anerkennt, dass diese sie mit ihm teilen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 25. Juli 2018, Minister for Justice and Equality [Mängel des Justizsystems], C‑216/18 PPU, EU:C:2018:586, Rn. 35).

64 Überdies ist darauf hinzuweisen, dass der Unionsbürgerstatus dazu bestimmt ist, der grundlegende Status der Angehörigen der Mitgliedstaaten zu sein (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 20. September 2001, Grzelczyk, C‑184/99, EU:C:2001:458, Rn. 31, vom 19. Oktober 2004, Zhu und Chen, C‑200/02, EU:C:2004:639, Rn. 25, und vom 2. März 2010, Rottmann, C‑135/08, EU:C:2010:104, Rn. 43), so dass der etwaige Austritt eines Mitgliedstaats aus der Union erhebliche Auswirkungen auf die Rechte aller Unionsbürger haben kann; dies gilt insbesondere für das Recht auf Freizügigkeit sowohl der Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaats als auch der Angehörigen der übrigen Mitgliedstaaten.

65 Unter diesen Umständen kann ein Staat, da er nicht gezwungen werden kann, gegen seinen Willen der Union beizutreten, auch nicht gezwungen werden, gegen seinen Willen aus der Union auszutreten.

66 Würde die Mitteilung der Austrittsabsicht unweigerlich dazu führen, dass der betreffende Mitgliedstaat am Ende des in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehenen Zeitraums aus der Union ausscheidet, könnte er aber gezwungen sein, die Union gegen seinen – am Ende eines demokratischen Prozesses im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften zum Ausdruck gekommenen – Willen zu verlassen, seinen Austrittsbeschluss rückgängig zu machen und Mitglied der Union zu bleiben.

67 Ein solches Ergebnis stünde im Widerspruch zu den Zielen und Werten, auf die in den Rn. 61 und 62 des vorliegenden Urteils hingewiesen worden ist. Zum Ziel der Verträge, eine immer engere Union der Völker Europas zu schaffen, stünde es insbesondere im Widerspruch, einen Mitgliedstaat zum Austritt zu zwingen, auch wenn er, nachdem er seine Absicht mitgeteilt hat, im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften und am Ende eines demokratischen Prozesses aus der Union auszutreten, beschließt, die Mitteilung dieser Absicht im Rahmen eines solchen Prozesses zurückzunehmen.

68 Auch die Entstehungsgeschichte von Art. 50 EUV spricht dafür, diese Bestimmung dahin auszulegen, dass ein Mitgliedstaat berechtigt ist, die Mitteilung seiner Absicht, aus der Union auszutreten, einseitig zurückzunehmen. Der Wortlaut dieses Artikels entspricht nämlich in weiten Teilen dem Wortlaut einer Klausel über den Austritt aus der Union, die erstmals im Entwurf des Vertrags über eine Verfassung für Europa enthalten war. Als diese Klausel abgefasst wurde, waren Änderungen vorgeschlagen worden, um den Ausschluss eines Mitgliedstaats zu ermöglichen, die Gefahr eines Missbrauchs im Laufe des Austrittsverfahrens zu vermeiden oder den Austrittsbeschluss zu erschweren. Alle diese Änderungen wurden jedoch mit der in den Kommentaren zum Entwurf ausdrücklich angegebenen Begründung abgelehnt, dass der freiwillige und einseitige Charakter des Austrittsbeschlusses gewahrt werden müsse.

69 Aus diesen Gesichtspunkten folgt, dass die Mitteilung der Austrittsabsicht durch einen Mitgliedstaat nicht unausweichlich zu dessen Austritt aus der Union führen kann. Vielmehr ist ein Mitgliedstaat, der seinen Beschluss, aus der Union auszutreten, rückgängig gemacht hat, berechtigt, die genannte Mitteilung zurückzunehmen, solange ein Austrittsabkommen zwischen ihm und der Union nicht in Kraft getreten ist oder, falls kein solches Abkommen geschlossen wurde, solange die in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehene Frist von zwei Jahren, die gegebenenfalls im Einklang mit dieser Bestimmung verlängert werden kann, nicht abgelaufen ist.

70 Dieses Ergebnis wird durch die Bestimmungen des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, das bei der Ausarbeitung des Vertrags über eine Verfassung für Europa herangezogen wurde, bestätigt.

71 Für den Fall, dass die Bestimmungen eines Vertrags einen Rücktritt zulassen, sieht Art. 68 des Übereinkommens nämlich u. a. mit klaren und keine Bedingungen enthaltenden Worten vor, dass eine Notifikation des Rücktritts nach den Art. 65 und 67 des Übereinkommens jederzeit zurückgenommen werden kann, bevor sie wirksam wird.

72 Zum Vorschlag des Rates und der Kommission, das Recht des betreffenden Mitgliedstaats, die Rücknahme der Mitteilung seiner Austrittsabsicht von der einstimmigen Zustimmung des Europäischen Rates abhängig zu machen, ist festzustellen, dass durch ein solches Erfordernis aus einem einseitigen souveränen Recht ein bedingtes, an ein Genehmigungsverfahren geknüpftes Recht würde. Ein solches Genehmigungsverfahren wäre aber unvereinbar mit dem in den Rn. 65, 67 und 69 des vorliegenden Urteils angesprochenen Grundsatz, dass ein Mitgliedstaat nicht gezwungen werden kann, gegen seinen Willen aus der Union auszutreten.

73 Daraus folgt erstens, dass ein Mitgliedstaat, solange ein Austrittsabkommen zwischen der Union und ihm nicht in Kraft getreten ist oder, falls kein solches Abkommen geschlossen wurde, solange die in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehene Frist von zwei Jahren, die gegebenenfalls im Einklang mit dieser Bestimmung verlängert werden kann, nicht abgelaufen ist, vorbehaltlich Art. 50 Abs. 4 EUV über alle in den Verträgen vorgesehenen Rechte verfügt und allen darin vorgesehenen Verpflichtungen unterworfen bleibt, so dass er die Befugnis behält, die Mitteilung seiner Absicht, aus der Union auszutreten, im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften einseitig zurückzunehmen.

74 Zweitens muss die Rücknahme der Mitteilung der Austrittsabsicht zum einen schriftlich an den Europäischen Rat gerichtet werden und zum anderen in dem Sinne eindeutig und unbedingt sein, dass sie die Bestätigung der Zugehörigkeit des betreffenden Mitgliedstaats zur Union zu Bedingungen, die hinsichtlich seines Status als Mitgliedstaat unverändert sind, zum Gegenstand hat, so dass die Rücknahme das Austrittsverfahren beendet.

75 Nach alledem ist auf die vorgelegte Frage zu antworten, dass Art. 50 EUV dahin auszulegen ist, dass er es einem Mitgliedstaat, der dem Europäischen Rat im Einklang mit diesem Artikel mitgeteilt hat, dass er beabsichtige, aus der Union auszutreten, gestattet, solange ein Austrittsabkommen zwischen ihm und der Union nicht in Kraft getreten ist oder, falls kein solches Abkommen geschlossen wurde, solange die in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehene Frist von zwei Jahren, die gegebenenfalls im Einklang mit dieser Bestimmung verlängert werden kann, nicht abgelaufen ist, die genannte Mitteilung durch ein an den Europäischen Rat gerichtetes Schreiben einseitig, eindeutig und unbedingt zurückzunehmen, nachdem er den Rücknahmebeschluss im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften getroffen hat. Gegenstand einer solchen Rücknahme ist die Bestätigung der Zugehörigkeit dieses Mitgliedstaats zur Union unter Bedingungen, die hinsichtlich seines Status als Mitgliedstaat unverändert sind, so dass die Rücknahme das Austrittsverfahren beendet.

Kosten

76 Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem beim vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Plenum) für Recht erkannt:

Art. 50 EUV ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat, der dem Europäischen Rat im Einklang mit diesem Artikel mitgeteilt hat, dass er beabsichtige, aus der Europäischen Union auszutreten, gestattet, solange ein Austrittsabkommen zwischen ihm und der Europäischen Union nicht in Kraft getreten ist oder, falls kein solches Abkommen geschlossen wurde, solange die in Art. 50 Abs. 3 EUV vorgesehene Frist von zwei Jahren, die gegebenenfalls im Einklang mit dieser Bestimmung verlängert werden kann, nicht abgelaufen ist, die genannte Mitteilung durch ein an den Europäischen Rat gerichtetes Schreiben einseitig, eindeutig und unbedingt zurückzunehmen, nachdem er den Rücknahmebeschluss im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften getroffen hat. Gegenstand einer solchen Rücknahme ist die Bestätigung der Zugehörigkeit dieses Mitgliedstaats zur Europäischen Union unter Bedingungen, die hinsichtlich seines Status als Mitgliedstaat unverändert sind, so dass die Rücknahme das Austrittsverfahren beendet.

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