Brandenburgischer Dienstgerichtshof für Richter, Beschluss vom 22. September 2016 – DGH Bbg 1.15
Zur vorläufigen Dienstenthebung eines Richters wegen schuldhafter Verletzung der Dienstpflicht zu ordnungsgemäßer, unverzögerter Erledigung der Amtsgeschäfte
Tenor
Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.
Gründe
I.
1
Die … 19… geborene Antragsgegnerin ist verheiratet und hat drei volljährige Kinder. Sie ist seit Juni 19… als Richterin auf Probe und seit … 19… als Richterin am Amtsgericht bei dem Amtsgericht … tätig, unterbrochen von krankheitsbedingter Dienstunfähigkeit u.a. von … bis … . Ihre Kenntnisse, Fähigkeiten und Leistungen sind zuletzt 19… mit „durchschnittlich“ beurteilt und ihre Eignung zum Richteramt ist mit uneingeschränkt „geeignet“ eingeschätzt worden.
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Die Antragsgegnerin ist disziplinarisch vorbelastet. Das Dienstgericht bei dem Landgericht Cottbus hat gegen die Antragsgegnerin mit Beschluss vom … eine Geldbuße in Höhe eines Monatsgehalts verhängt, weil diese zwischen … 20… und 20… in 36 Fällen Erzwingungshaftsachen „unangemessen lang nicht betrieben und gefördert“ hat.
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Aufgrund eines mit Verfügung vom 26. Mai 2010 eingeleiteten Disziplinarverfahrens hat der Antragsteller am 10. März 2014 Disziplinarklage mit dem Antrag erhoben, die Dienstbezüge der Antragsgegnerin zu kürzen. Der Antragsteller legt der Antragsgegnerin in der Klage zur Last, seit 2010 in 63 Bußgeldverfahren ihre Pflicht zur ordnungsgemäßen, unverzögerten Erledigung der Amtsgeschäfte mit der Folge verletzt zu haben, dass in 46 Fällen Verfolgungsverjährung eingetreten sei. Ein wegen dieser Vorwürfe auf Anzeige des Präsidenten des Landgerichts … im Frühjahr 2011 eingeleitetes Ermittlungsverfahren wegen Rechtsbeugung ist von der Staatsanwaltschaft mangels hinreichenden Tatverdachts eingestellt worden. Der Präsident des … hat das Disziplinarverfahren zudem zum Anlass genommen, eine krankheitsbedingte Beeinträchtigung der Leistungsfähigkeit der Antragsgegnerin durch Einholung eines psychiatrischen Sachverständigengutachtens abzuklären. Der Gutachter Dr. …, Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, hat in seinem Gutachten vom 28. September 2012 diagnostiziert, dass die Antragsgegnerin durch eine Anpassungsstörung in Form einer depressiven Reaktion belastet werde, die sich auch auf die Arbeitseffektivität auswirken dürfte. Zudem sei eine Persönlichkeitsstörung in Form einer anankastischen (zwanghaften) Persönlichkeit zu diagnostizieren, die in der Vergangenheit und bis heute „wirksam und kausal für die Arbeitsproblematik verantwortlich“ sei (insbesondere mangelnde Effizienz und erhebliche Beeinträchtigung der Fähigkeit zu alternativem Arbeitsverhalten). Allerdings sei die Antragsgegnerin zu jedem Zeitpunkt kognitiv in der Lage gewesen, eine subjektiv empfundene Überlastung anzuzeigen, weswegen sich die Unterlassung einer solchen Anzeige „in einem subjektiv sehr belastenden Dilemma“ aus Vermeidungsverhalten erkläre. Der Gutachter kommt prognostisch zu dem Schluss, dass die Dienstfähigkeit der Antragsgegnerin in der aktuellen Konfliktsituation gefährdet sei, weil diese aus eigener Kraft anscheinend nicht zu einer weitreichenden Verhaltensumstellung in der Lage sei.
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Mit Nachtragsdisziplinarklage vom 11. Februar 2015, der ein am 31. März 2014 eingeleitetes und später ausgedehntes Disziplinarverfahren zugrunde liegt, hat der Antragsteller „angeregt“, die Antragsgegnerin des Dienstes zu entheben. Er wirft ihr in der Klage vor, ihre Pflicht zur ordnungsgemäßen, unverzögerten Erledigung der Amtsgeschäfte seit 2010 in 14 Betreuungsverfahren und neun Bußgeldverfahren verletzt zu haben, indem sie erstere teilweise über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahren nicht gefördert habe und in letzteren infolge Nichtförderung in acht Fällen Verfolgungsverjährung eingetreten sei.
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Mit der Erhebung der Nachtragsdisziplinarklage hat der Antragsteller zugleich beantragt, die Antragsgegnerin vorläufig des Dienstes zu entheben und 50 Prozent ihrer monatlichen Dienstbezüge einzubehalten.
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Das Dienstgericht hat den Antrag mit der Begründung zurückgewiesen, dass die der Antragsgegnerin zur Last gelegten Dienstpflichtverletzungen evidentermaßen nicht deren Entfernung aus dem Dienst rechtfertigten.
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Gegen den Beschluss wendet sich der Antragsteller mit seiner Beschwerde, mit der er seinen Antrag auf vorläufige Dienstenthebung und Einbehaltung von Bezügen weiter verfolgt.
8
Der Antragsteller hält der Evidenzannahme des Dienstgerichts entgegen, dass die Antragsgegnerin weder die disziplinarische Ahndung gleichartiger Verfehlungen mit einer Geldbuße in Höhe eines Monatsgehalts im April 2009 noch die Erhebung der Disziplinarklage im März 2014 zum Anlass genommen habe, ihren Arbeitsstil zu verändern, was „auf ein ganz besonders hohes Maß an Gleichgültigkeit und Hartnäckigkeit“ schließen lasse. Des Weiteren rügt der Antragsteller, dass das Dienstgericht versäumt habe, sich mit seinem Vorbringen auseinanderzusetzen, wonach durch ein Verbleiben der Antragsgegnerin im Dienst der Dienstbetrieb erheblich beeinträchtigt würde.
II.
9
Die Beschwerde des Antragstellers hat keinen Erfolg.
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Sie ist zwar zulässig (§ 75 Abs. 2 BbgRiG; § 73 Abs. 1 BbgRiG in Verbindung mit § 68 Abs. 1 LDG in Verbindung mit §§ 146, 147 VwGO), zumal die Vorschrift des § 146 Abs. 4 VwGO, die u.a. gesteigerte Begründungsanforderungen für die Beschwerde aufstellt, hier nicht anwendbar ist (vgl. DGH des Landes Brandenburg, Beschluss vom 30. August 2012 – DGH Bbg 5/12 – juris Rn. 8 ff. = NVwZ-RR 2013, 60, auch in Bezug auf die frühere Rechtslage).
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Die Beschwerde ist aber nicht begründet. Das Dienstgericht hat den Antrag des Antragstellers auf vorläufige Dienstenthebung und Einbehaltung von Bezügen zu Recht zurückgewiesen.
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Einem solchen Antrag kann in sinngemäßer Anwendung von § 39 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 LDG (Vorschriften des LDG hier und im Folgenden in Verbindung mit § 73 Abs. 1 BbgRiG) einmal entsprochen werden, wenn im Disziplinarverfahren voraussichtlich auf Entfernung aus dem Richterdienstverhältnis (§ 74 Nr. 6 BbgRiG) erkannt werden wird. Bereits die Voraussetzungen, die das Dienstgericht (§ 75 Abs. 1 BbgRiG) zu einer solchen Ermessensentscheidung ermächtigen würden, sind vorliegend nicht gegeben.
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Die objektive Schwere eines Dienstvergehens (§ 13 Abs. 1 Satz 2 LDG), d. h. Anzahl und Gewicht der objektiv gegebenen Dienstpflichtverletzungen, ist für die Bemessung der Disziplinarmaßnahme nur relevant, soweit sie dem Richter individuell vorwerfbar ist. Dies folgt aus dem (bundes-)verfassungsrechtlich vorgegebenen und damit der Verfügungsbefugnis des (Landes-)Gesetzgebers entzogenen Schuldprinzip (Art. 1 Abs. 1 GG; vgl. nur Urban/Wittkowski, BDG § 13 Rn. 3 mwN). Besteht das dem Richter zur Last gelegte Dienstvergehen darin, dass dieser seine Dienstpflicht zu ordnungsgemäßer, unverzögerter Erledigung der Amtsgeschäfte (§ 26 Abs. 1 DRiG) verletzt hat, müssen konkrete Feststellungen zu dessen individueller Leistungsfähigkeit getroffen werden. Da ein abstrakt-genereller Schuldbegriff wie etwa im Zivilrecht nicht zugrunde gelegt werden kann, können von der Person des Richters abstrahierende Vergleichsbetrachtungen, wie sie der Antragsteller im Hinblick auf die allgemeine Belastungssituation des Gerichts („Belastung … im Vergleich zu den anderen Richterinnen und Richtern am Amtsgericht K… eher unterdurchschnittlich“) oder auch der Haushaltsaufstellung dienende Berechnungen des Personalbedarfs („PEBB§Y“) vorgenommen hat, lediglich den Ausgangspunkt der erforderlichen Schuldfeststellung bilden. Dies gilt jedenfalls dann, wenn greifbare Anhaltspunkte dafür bestehen, dass der Richter weniger leistungsfähig ist, als es der Durchschnitt der an seinem Gericht tätigen Richterinnen und Richter ist.
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Vorliegend bestehen aufgrund der sachverständigen Feststellungen vom 28. September 2012 ganz erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass die objektiven Dienstpflichtverletzungen der Antragsgegnerin im hier maßgeblichen Zeitraum wesentlich (auch) auf krankheitsbedingt gemindertes Leistungsvermögen zurückzuführen sind. Dem Schuldprinzip Rechnung tragend hat der Präsident des … den Sachverständigen daher auch um Beantwortung der Frage gebeten, ob „auch die Fähigkeit der Richterin beeinträchtigt (war), eine subjektive Überlastung anzuzeigen und um Unterstützung zu bitten“. Auch der Antragsteller räumt durchaus ein, dass das Krankheitsbild der Antragsgegnerin „mitursächlich für die eingetretenen Versäumnisse sein und die Fähigkeit (der Antragsgegnerin) … beeinträchtigen (mag), ihren unzureichenden Arbeitsstil zu verändern“. Deshalb konkretisiert er den individuellen Schuldvorwurf letztlich dahin („Entscheidend ist insoweit aber …“), dass die Antragsgegnerin „zu jedem Zeitpunkt die Fähigkeit besaß, eine subjektive Überlastung anzuzeigen“. Wenn sich aber das verschuldete Unterlassungsunrecht der Antragsgegnerin auf die Verletzung dieser Handlungspflicht beschränken kann, kann deren Entfernung aus dem Richterdienstverhältnis jedenfalls nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit (Urban/Wittkowski, BDG § 38 Rn. 17 mwN) vorausgesehen werden. Soweit das das weitere psychiatrische Gutachten vom 8. Juni 2015 eine uneingeschränkte Leistungsfähigkeit der Antragsgegnerin bejaht, ist nicht ersichtlich, dass dies auch den von der Nachtragsdisziplinarklage erfassten Zeitraum bis Februar 2014 betrifft.
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Vor diesem Hintergrund kommt es auf spezialpräventive Gesichtspunkte (§ 13 Abs. 1 Satz 3 LDG) an sich nicht mehr an. Denn auch derartige Gesichtspunkte können nur innerhalb des durch die Schuldfeststellungen eröffneten Sanktionsspielraums bemessungsrelevant werden. Dessen ungeachtet lässt sich eine Ausnahme von dem Grundsatz der stufenweisen Steigerung der Disziplinarmaßnahme (dazu statt vieler Urban/Wittkowski, BDG § 13 Rn. 25 mwN) nicht schon damit begründen, dass die Antragsgegnerin nach Erhebung der auf Kürzung der Dienstbezüge abzielenden Disziplinarklage weiter gefehlt habe. Die spezialpräventive Unwirksamkeit dieser milderen Disziplinarmaßnahme lässt sich nämlich nicht schon aufgrund deren Beantragung, sondern erst aufgrund deren Verhängung und Vollstreckung erweisen.
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Eine vorläufige Dienstenthebung ist in sinngemäßer Anwendung von § 39 Abs. 1 Satz 2 LDG ferner möglich, wenn durch das Verbleiben des Richters im Dienst der Dienstbetrieb oder die Ermittlungen wesentlich beeinträchtigt würden und die vorläufige Dienstenthebung zu der Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Disziplinarmaßnahme nicht außer Verhältnis steht. Dagegen kommt eine Einbehaltung von Bezügen in diesem Fall nicht Betracht, weil dies gemäß § 39 Abs. 2 Satz 1 LDG eine vorläufige Dienstenthebung nach § 39 Abs. 1 Satz 1 LDG voraussetzt. Ob die Vorschrift über § 73 Abs. 1 BbgRiG auch auf Richter Anwendung findet, kann vorliegend offen bleiben (zweifelnd Schmidt-Räntsch, DRiG, Kommentar, § 63 Rn. 35; bejahend in Bezug auf einen Präsidenten des Verwaltungsgerichts BVerfG, Kammer, Beschluss vom 29. Februar 1996 – 2 BvR 136/96 – juris Rn. 23 ff.).
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Mit § 39 Abs. 1 Satz 2 LDG hat der Landesgesetzgeber die Vorschrift des § 38 Abs. 1 Satz 2 BDG in Landesrecht übernommen. Mit § 38 Abs. 1 Satz 2 BDG hat der Gesetzgeber keine materielle Verschärfung gegenüber der bisherigen Rechtslage bezweckt (BT-Drs. 14/4659, S. 45). Die zu § 91 BDO ergangene Rechtsprechung kann daher zur Auslegung von § 39 Abs. 1 Satz 2 LDG herangezogen werden (vgl. Urban/Wittkowski, BDG § 38 Rn. 21). Zur vorläufigen Dienstenthebung nach dieser Vorschrift bedarf es mithin eines besonderen rechtfertigenden Grundes dafür, dass die Antragsgegnerin in der Zeit von der Einleitung des förmlichen Verfahrens an bis zum rechtskräftigen Abschluss des Disziplinarverfahrens ihren sich aus dem bestehenden Richterdienstverhältnis ergebenden Anspruch auf Ausübung ihres Amtes vorübergehend verliert; eine pauschale Begründung genügt hierfür nicht (vgl. BVerwG, Beschluss vom 16. Mai 1994 – 1 DB 7/94 – juris Rn. 13 = E 103, 116).
18
Eine Beeinträchtigung der Ermittlungen macht der Antragsteller nicht geltend. Eine wesentliche Beeinträchtigung des Dienstbetriebs besorgt der Antragsteller zwar, dessen Begründung sich indes in dem pauschalen Verweis auf das der Antragsgegnerin zur Last gelegte Dienstvergehen erschöpft. Der Dienstgerichtshof vermag infolge dessen nicht festzustellen, welche konkreten Anhaltspunkte die Annahme rechtfertigen sollten, dass durch die Anwesenheit der Antragsgegnerin und die von ihr zu verantwortenden disziplinarrechtlich erheblichen Umstände der Gerichtsbetrieb wesentlich beeinträchtigt würde (etwa durch irreparable, die Funktionsfähigkeit des Amtsgerichts beeinträchtigende Spannungen zu den übrigen Gerichtspersonen, vgl. Urban/Wittkowski, BDG § 38 Rn. 22 mwN). Des Weiteren müsste nach dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der in § 39 Abs. 1 Satz 2 LDG nochmals ausdrücklich hervorgehoben wird, gerade die vorläufige Dienstenthebung, die zeitlich längstens bis zum rechtskräftigen Abschluss des gerichtlichen Disziplinarverfahren befristet ist, geeignet sein, der vom Antragsteller besorgten wesentlichen Beeinträchtigung des Dienstbetriebs abzuhelfen, da eine endgültige Entfernung der Antragsgegnerin aus dem Richterdienstverhältnis nach dem Vorgesagten voraussichtlich ausscheidet (vgl. BVerwG, Beschluss vom 17. Mai 2001 – 1 DB 15/01 – juris Rn. 40 = NVwZ 2001, 1410). Auch hierfür ist nichts ersichtlich.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 73 Abs. 1 BbgRiG iVm § 78 Abs. 4 LDG iVm § 154 Abs. 2 VwGO.
20
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (vgl. § 77 BbgRiG).