Zur Frage der Haftung bei Radfahrersturz auf stillgelegten Bahngleisen

Oberlandesgericht Hamm, Urteil vom 09.06.2016 – 6 U 35/16

1. Überquert ein Radfahrer Bahnschienen, hat er sich jedenfalls dann, wenn die Gleisanlage sich vom übrigen Straßenbelag deutlich abhebt und der Schienenverlauf gut sichtbar ist,auf die damit verbundene Gefahr, mit den Reifen in die Schienenspur zu geraten und die Lenkfähigkeit zu verlieren, einzustellen.

2. Dies gilt insbesondere im Bereich eines Industriedenkmals (hier: ehemaliges Zechengelände), wo auf die sich aus dem Charakter der Anlage ergebenden Besonderheit, den Besuchern einen möglichst originalgetreuen Zustand nahezubringen, Bedacht genommen werden muss.

(Leitsatz des Gerichts)

Tenor:

(…) beabsichtigt der Senat, die Berufung durch Beschluss gem. § 522 II ZPO zurückzuweisen.

Gründe:

Die Sache hat keine grundsätzliche Bedeutung; eine Entscheidung nach mündlicher Verhandlung zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung ist nicht erforderlich. Es sind auch sonst keine Gründe vorhanden, die die Anberaumung einer mündlichen Verhandlung geboten erscheinen lassen.

Die Berufung verspricht offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg, denn nach dem bisherigen Sach- und Streitstand steht der Klägerin gegen die Beklagte kein Anspruch auf Zahlung von Schadensersatz und Schmerzensgeld aus dem streitgegenständlichen Unfall zu. Das Landgericht ist aus zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung – auf die zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen wird – davon ausgegangen, dass auf der Grundlage des klägerischen Sachvortrages eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch die Beklagte nicht festgestellt werden kann. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, der sich der Senat anschließt, ist derjenige, der eine Gefahrenlage – gleich welcher Art – schafft, grundsätzlich verpflichtet, die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um eine Schädigung anderer möglichst zu verhindern. Die rechtlich gebotene Verkehrssicherung umfasst diejenigen Maßnahmen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, um andere vor Schäden zu bewahren (vgl. BGH NJW 2007, 1683, 1684). Zu berücksichtigen ist jedoch, dass nicht jeder abstrakten Gefahr vorbeugend begegnet werden kann. Ein allgemeines Verbot, andere nicht zu gefährden, wäre utopisch. Eine Verkehrssicherung, die jede Schädigung ausschließt, ist im praktischen Leben nicht erreichbar. Haftungsbegründend wird eine Gefahr daher erst dann, wenn sich für ein sachkundiges Urteil die naheliegende Möglichkeit ergibt, dass Rechtsgüter anderer verletzt werden. Deshalb muss nicht für alle denkbaren Möglichkeiten eines Schadenseintritts Vorsorge getroffen werden. Es sind vielmehr nur die Vorkehrungen zu treffen, die geeignet sind, die Schädigung anderer tunlichst abzuwenden. Der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt (§ 276 II BGB) ist genügt, wenn im Ergebnis derjenige Sicherheitsgrad erreicht ist, den die in dem entsprechenden Bereich herrschende Verkehrsauffassung für erforderlich hält. Daher reicht es anerkanntermaßen aus, diejenigen Sicherheitsvorkehrungen zu treffen, die ein verständiger, umsichtiger, vorsichtiger und gewissenhafter Angehöriger der betroffenen Verkehrskreise für ausreichend halten darf, um andere Personen vor Schäden zu bewahren, und die ihm den Umständen nach zuzumuten sind (vgl. BGH NJW 2007, a. a. O.; NJW 2008, 3778, 3776). Kommt es in Fällen, in denen hiernach keine Schutzmaßnahmen getroffen werden mussten, weil eine Gefährdung anderer zwar nicht völlig ausgeschlossen, aber nur unter besonders eigenartigen und entfernter liegenden Umständen zu befürchten war, ausnahmsweise doch einmal zu einem Schaden, so muss der Geschädigte – so hart dies im Einzelfall sein mag – den Schaden selbst tragen (BGH NJW 2007, a. a. O.).

Unter den vorliegenden Umständen ist nicht zu beanstanden, dass das Landgericht von der zuletzt genannten Fallgestaltung, bei der die Geschädigte ihren Schaden selbst zu tragen hat, ausgegangen ist. Die hiergegen von der Klägerin mit der Berufungsbegründung vorgebrachten Einwendungen und Argumente führen zu keinem anderen Ergebnis.

a)

Soweit die Klägerin an ihrer Behauptung festhält, bei den nicht verfüllten Schienen im Gleisbereich der Kreuzung, auf welcher sie mit ihrem Fahrrad gestürzt ist, handele es sich um eine für sich nicht erkennbare Gefahrenquelle, kann dem nicht gefolgt werden.

Grundsätzlich darf ein Radfahrer auf Radwegen nicht mit einer ebenen schadlosen und von Hindernissen befreiten Fahrbahn rechnen. Er muss die gegebenen Verhältnisse vielmehr so hinnehmen, wie sie sich ihm erkennbar darbieten und sein Fahrverhalten entsprechend anpassen. Mit typischen Gefahrenquellen, wie etwa Unebenheiten oder für ihn bereits aus der Entfernung sichtbaren Straßenaufbrüchen hat er dabei zu rechnen (vgl. OLG Koblenz, Urteil v. 16.3.2005 – 12 U 692/14 -, abgedr. bei Juris, Rz. 22 f.; OLG Stuttgart VersR 2004, 215). Insbesondere im Bereich vom Schienen oder in die Fahrbahn eingelassenen Gleisen hat er sich auf die typischen damit verbundenen Gefahren einzustellen, wozu auch die naheliegende Gefahr gehört, mit den Reifen in die Schienenspur zu gelangen und dadurch die Lenkfähigkeit des Fahrrades zu verlieren. Das gilt jedenfalls dann, wenn sich die Gleisanlage vom übrigen Straßenbelag deutlich abhebt und der Schienenverlauf gut sichtbar ist (vgl. OLG Saarbrücken, Urteil vom 23.10.2014 – 4 U 387/14 -, abgedr. bei Juris, Rz. 70 ff.).

Bei der in den Straßenbelag eingelassenen Gleisanlage handelt es sich – wie aus den von den Parteien z. d. A. gereichten Lichtbildern unzweifelhaft hervorgeht – um ein schon von weitem sichtbares Hindernis, welches durch die in die Straße eingelassenen rot-weiß markierten Pfeiler als solches angekündigt wird. Dass die rot-weiß markierten Pfeiler dabei in der Regel nur vor dem Kreuzungsbereich selbst und nicht vor der Beschaffenheit des Bodenbelages warnen, steht dem nicht entgegen, denn im Zusammenhang mit den erkennbar auf die Kreuzung zulaufenden und im Kreuzungsbereich deutlich sichtbaren Schienen bot sich für die Klägerin eine typische Gefahrenlage dar, auf die sie sich entsprechend einstellen konnte. Wegen der sich der Klägerin darbietenden offensichtlichen Gefährdung durch die im Kreuzungsbereich befindliche Gleisanlage, war die Beklagte auch nicht verpflichtet, zusätzliche Warnschilder aufzustellen. Denn vor offensichtlichen Gefahren muss nicht gewarnt werden (vgl. OLG Hamm VersR 1991, 389; OLG Saarbrücken, a. a. O., Rz. 72).

b)

Daran ändert auch der – zwischen den Parteien unstreitig gebliebene – Umstand nichts, dass die Schienen an anderen Stellen auf dem ehemaligen Betriebsgelände der Zeche A mit Asphalt verfüllt worden sind. Denn ein Vertrauenstatbestand dahingehend, dass die Klägerin damit rechnen durfte, dass die Schienen an allen Stellen auf dem ehemaligen Betriebsgelände der Zeche A bündig in den Asphalt eingelassen waren, entstand dadurch nicht.

Dem steht entgegen, dass – ausweislich der z. d. A. gereichten Lichtbildern – für die Klägerin deutlich erkennbar war, dass die Schienen zwischen den im Kreuzungsbereich verlegten Betonplatten nicht – wie an anderen Stellen – mit Asphalt gefüllt waren.

Hinzu kommt, dass es sich beim dem ehemaligen Zechengelände, auf welchem die Klägerin verunglückt ist, um ein Industriedenkmal handelt. Sinn und Zweck eines solchen Denkmals ist es, den Besuchern die baulichen Besonderheiten der Anlage, in möglichst originalgetreuem Zustand nahezubringen. Das setzt voraus, dass zumindest solche Bestandteile, die den Charakter der Anlage ausmachen möglichst unverfälscht und unverändert belassen werden. Zu den Besonderheiten einer Zeche gehört auch der Gleisbereich, der dem Rangieren verschiedener Güter auf dem Gelände zu dienen bestimmt war. Auch deswegen durfte sich die Klägerin nicht darauf verlassen, dass der Radweg auf dem denkmalgeschützten Gelände der Zeche frei von Schienen und sonstigen Gefahrenstellen war, auch wenn an anderen – vielleicht weniger exponierten Stellen – diese beseitigt oder verfüllt worden waren. Sie musste vielmehr auf die sich aus dem Charakter der Anlage ergebenden Besonderheiten Rücksicht nehmen und durfte sich auf dem Gelände nicht ohne eine gewisse Vorsicht bewegen (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 25.11.2010 – 5 U 56/10 -, abgedr. bei BeckRS 2011, 01782).

c)

Letztlich kann sich die Klägerin auch nicht darauf berufen, durch die Sehenswürdigkeiten auf dem denkmalgeschützten Gelände von ihrer Aufmerksamkeit auf den von ihr befahrenen Radweg abgelenkt gewesen zu sein. Es erscheint schon fraglich, ob die Klägerin durch die auf dem Gelände befindlichen Gebäude und Anlagen tatsächlich in ihrer auf den Zustand des Radweges gerichteten Aufmerksamkeit eingeschränkt war, denn erstinstanzlich hat sie vortragen lassen, den Radweg lediglich als Teilnehmerin einer Fahrradtour und nicht deswegen benutzt zu haben, um sich die Industrieanlage anzusehen. Jedenfalls erscheint die Situation nicht vergleichbar mit derjenigen von Fußgängern, die sich zu Fuß durch eine Einkaufspassage oder durch eine Ausstellung bewegen und durch die Geschäftsauslagen und Exponate einer gewissen Ablenkung unterliegen. Denn die Klägerin hatte in erster Linie auf die typischen Gefahren zu achten, die sich ihr als Radfahrerin unter Berücksichtigung der Besonderheiten der von ihr befahrenen Örtlichkeiten eröffneten. Dieser Umstand erlaubte es ihr aufgrund der üblicherweise gefahrenen Geschwindigkeiten und der bauartbedingten Instabilität ihres Fortbewegungsmittels nicht, ihre Aufmerksamkeit gänzlich vom Radweg weg auf die sie umgebenden Anlagen und Gebäude zu richten. Hätte sie dies tun wollen, hätte ihr die eigenübliche Sorgfalt geboten, vom Fahrrad abzusteigen und die Umgebung zu Fuß zu erforschen.

d)
Soweit die Klägerin einwendet, dass sie den für sie durch die nicht verfüllten Schienen eröffneten Gefahrenbereich nicht gefahrlos habe umfahren können, weil sie durch die dann erforderlichen Lenkmanöver weitere Gefahrenquellen hätte schaffen müssen, reicht dies nicht aus, um im Zusammenhang mit den übrigen Umständen eine Verletzung der Verkehrssicherungspflicht durch die Beklagte begründen zu können. Denn in diesem Fall hätte die Klägerin von der ihr verbleibenden weiteren Handlungsalternative, vom Fahrrad abzusteigen und dieses über den in der Kreuzung verlegten Gleisbereich hinaus zu schieben, Gebrauch machen müssen (vgl. dazu auch: OLG Saarbrücken, a. a. O., Rz. 74). Dass ihr ein solches Verhalten nicht zumutbar gewesen wäre, hat sie nicht dargelegt.

Es besteht Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 02.07.2016.

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